Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
stand jedoch immer noch in der Blüte seiner Jahre, obwohl er eher stämmig denn groß wirkte und sich lichtendes rötliches Haar besaß. Sein Umhang war in traditionell königlichem Stil aus Wolle in vielen Farben gewoben. Igraine hatte ihn schon in römischen Kleidern gesehen, die er gerne trug, und sie wusste, dass diese plötzliche Vorliebe für keltische Erinnerungen etwas zu bedeuten hatte.
Er wird sie reden lassen, bis es nichts mehr zu sagen gibt, ehe er seinen Zug macht, und wird darauf hoffen, dass sie in ihrer Verzweiflung sogar einen Nordländer anerkennen, wenn er genügend Macht besitzt.
Das durch die Fenster einfallende Licht verdunkelte sich ob des nahenden Sonnenuntergangs, als Bischof Dubricius seinen Stab emporhielt. Zögernd verstummten die Männer.
»Wir werden über diese Angelegenheit nicht heute entscheiden, aber ich glaube, dass diejenigen, die gesprochen haben, die Eigenschaften aufgezeigt haben, die unser König in sich vereinen muss – Stärke, Weisheit, Sorge um alle Teile dieses Landes, ein Recht zu herrschen, das jeder hier anerkennen kann…«
»Dazu brauchen wir ein Wunder…«, flüsterte jemand in der Nähe.
»Christus selbst könnte bei seiner Wiederkehr nicht die Anerkennung aller erlangen!«, entgegnete eine andere Stimme.
Einer der Ortsansässigen erhob sich. »Wir werden uns nie einigen, bis Gott selbst uns ein Zeichen gibt! Aber in der Einsiedlerkapelle gleich außerhalb der Stadt steckt in einem Stein ein Schwert, das niemand herauszuziehen vermag. Die Inschrift auf dem Stein besagt, es gehöre dem König!«
Igraine sank an die Wand zurück, als hätte selbige Klinge sie getroffen.
Ihr Traum von Merlin war wahr gewesen! Und dies war aus dem Schwert geworden, und deshalb hatte er sie aufgefordert, Calleva aufzusuchen! Aber warum? Nur Merlin und sie selbst kannten den Kunstgriff, wie man einen Schacht fertigte, der die heilige Klinge zu halten vermochte. Wollte er, dass sie selbst es zog und ihren König auserkor, als Priesterin der Herrin des Landes?
»Herrin, fühlt Ihr Euch unwohl?«, erkundigte sich Flavia; Igraine wurde bewusst, dass ihre Haut feuchtkalt war und dass sie unter dem Schleier schwitzte.
Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie das Wissen um gewaltige Kräfte, die rings um sie etwas errichteten, erbeben ließ. Da erkannte sie, dass sie nicht wagen würde, das Schwert anzufassen. Sie hatte es Uther gegeben, und es hatte ihn getötet. Igraine straffte die Schultern, bemüht, sich zu fassen. Sie konnte nicht eingreifen, doch sie würde Zeugnis von dem geben, was da kommen musste.
Die Wettkämpfe hatten bereits begonnen, als Igraine in Begleitung von Flavias Knaben im Amphitheater eintraf. Die Pferderennen sollten später an jenem Tage stattfinden. Das Amphitheater befand sich im Nordosten der Stadt, wo es im Morgenlicht lag, doch der Tag hatte bewölkt gegraut; ab und an streifte ein kühler Nebelstreifen ihre Haut. Sie hatte sich warm eingepackt, und die Menschen Callevas hatten über einem Teil der Sitze einen Schutz errichtet und ihn für die edlen Damen und älteren Männer mit Decken und Kissen gemütlich eingerichtet.
Es war des Bischofs Einfall gewesen, dass ein Tag voller Kampfspiele die Häuptlinge entspannen und ihnen die Möglichkeit einräumen würde, die Gemüter der anderen zu beurteilen. Und es war gut, dachte Igraine, dass sie ein wenig Zeit hatten, über die Schmach des letzten Abends hinwegzukommen; die Schmach darüber, sich an dem Schwert zu versuchen – und zu versagen.
Wieder schluckte sie ihren Zorn hinunter. Verflucht seist du dafür, Merlin, dass du diese Probe vorbereitet hast und dann einfach verschwunden bist! Wenn du weißt, wem es vorherbestimmt ist, die Klinge zu ziehen, warum bist du dann nicht hier, um sicherzustellen, dass er es auch tut?
Ursprünglich musste das Amphitheater wohl Platz für fast die gesamte Bevölkerung der Stadt geboten haben. Sie vermutete, dieser Tage wurde es selten benutzt, denn das Holz wirkte morsch. Aber die verbleibenden Stände offenbarten eine gute Sicht auf die Arena, deren Gras von den Schafen, die hier gewöhnlich grasten, zu einer grünen Matte gestutzt worden war.
Der Knabe lehnte sich vor, als zwei neue Kämpfer auf das Grün schritten, wie für eine Schlacht bewaffnet, abgesehen von den Lederbändern, die ihre Schwerter umhüllten.
»Wer sind die beiden?«
»Einer von Cadors Männern und ein Mann aus Demetia, nach den Emblemen zu schließen«, antwortete sie. »Ich kenne ihre
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