Brixton Hill: Roman (German Edition)
Speichermedien schickt? Ist doch nett. Brauchen Sie sich so schnell keine zu kaufen.« Cox’ Versuch, witzig zu sein, verpuffte zu Peinlichkeit.
»Wie heißen Sie noch gleich?«, fragte Patricia. Sie mochte auf Cox wie eine kleine alte Frau wirken, aber die Autorität in ihrer Stimme ließ ihn strammstehen.
»Cox heißt er«, sagte Em, bevor er antworten konnte. »Constable.«
» Detective Constable«, sagte Katherine. »Richtig?«
»Er ist ein wenig überfordert, nicht?«, fragte Patricia so laut, dass es die umstehenden Menschen hören mussten. Cox lief rot an. Dann wandte sie sich wieder ihm zu und sagte langsam und deutlich, als hätte der Constable Schwierigkeiten mit der englischen Sprache: »Mr. Cox, glauben Sie, Sie könnten uns einen Ihrer Vorgesetzten schicken? Jemand, der der Situation gewachsen ist und Manieren hat? Vielen Dank.« Sie machte eine Handbewegung, als sei er ein Kellner, den sie nach einer Bestellung entließ – würdevoll, selbstbewusst, ohne Skrupel. Em konnte in solchen Moment sehr klar vor sich sehen, wie ihre Großmutter es geschafft hatte, nach dem Krieg eine der größten Privatbanken des Landes sozusagen aus dem Nichts aufzubauen.
»Dann geht es bei dieser Sache also wirklich um dich«, sagte Patricia und sah Em mit kühlen grauen Augen an.
»Sie kann wahrscheinlich gar nichts dafür«, sagte Katherine und half ihrer Mutter beim Aufstehen. »Jedenfalls nicht so viel, wie sie denkt. Irgendein Antikapitalistenchaot hat uns im Visier.«
Em verstand nun, wie viel Verantwortung sie für diese Menschen hatte, die sich ihre Familie nannten. Wie sie, die immer ohne Verbindlichkeiten und langfristige Verpflich tungen hatte sein wollen, nicht nur auf das Leben der anderen einwirkte – was, wenn Patricia ihr Haus verloren hätte? –, sondern sie sogar in tödliche Gefahr brachte.
Die Geschichte des Hauses 35 Henrietta Street im West End, nur ein paar Schritte von Covent Garden und dem Royal Opera House entfernt, kannte Em, seit sie ein Kind war: Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte eine deutsche Familie darin gelebt. Weil man sie früh und vermutlich fälschlich verdächtigte, Spione zu sein, flohen diese Deutschen; wohin, war zunächst unbekannt. Nach 1945 hatte das Haus nicht lange leer gestanden. Kriegsheimkehrer und obdachlose Frauen mit Kindern zogen dort ein. Weil die Besitzverhältnisse des Gebäudes lange unklar waren, griff niemand ein. Es blieb bis in die späten Sechzigerjahre ein friedlich besetztes Haus, doch dann meldeten sich aus Chicago die Kinder der deutschen Familie und wollten es verkaufen. Die von den Kriegswirren betroffenen Bewohner waren mittlerweile von frühen Hippies abgelöst worden, die nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, sondern vor allem aus politischer Überzeugung leer stehende Häuser besetzten, und die deutsch-amerikanischen Erben hatten keinerlei Verständnis für das, was sich hinter der klassischen viktorianischen Fassade abspielte. Sie suchten und fanden in den Everetts entschlossene Käufer der Immobilie, die es auch ohne lange Verhandlungen schafften, die Hippie-Kommune an die Luft zu setzen. Em hatte einmal in einem Zeitungsarchiv Fotos von der Räumungsaktion gesehen – Patricia hatte mit verschränkten Armen dagestanden und zugesehen. Sie trug ein maßgeschneidertes Kostüm auf der Höhe der damaligen Mode, dazu ein Hütchen; die Hände steckten in dünnen Lederhandschuhen. Selbst auf dem grobkörnigen Schwarzweißfoto strahlte sie mehr Autorität aus als alle uniformierten Polizisten zusammen, die sich mit Schlagstöcken um den Auszug der Hausbesetzer kümmerten. Nachdem das Haus geräumt war, flossen mehrere Millionen Pfund in Renovierung, Restaurierung, Umbau und Einrichtung. Gute fünfundzwanzig Jahre illegale Nutzung wurden ausradiert. Im Erdgeschoss eröffnete eine teure Boutique, die bis heute dort ihren Platz hatte, und die Everetts zogen in die drei Stockwerke darüber. Damals waren es Patricia und ihr Mann George gewesen, zusammen mit den beiden Töchtern Katherine und Ruth. Bald darauf starb George Everett. Ruth zog aus, um zu heiraten – zu diesem Zeitpunkt war sie bereits mit den Zwillingen schwanger –, und als die jüngere Katherine heiratete, zog deren Mann Frank im West End ein, damit Patricia nicht allein war.
Katherine und Frank zogen in die Belle Etage, und Patricia bestand darauf, im obersten Geschoss zu wohnen. Das Stockwerk dazwischen blieb Besuchern vorbehalten, die nur selten kamen. Drei Menschen.
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