Brixton Hill: Roman (German Edition)
reden.«
»Du lieber Himmel«, sagte Patricia.
»Ein guter Name hat Vorteile«, sagte Katherine.
»Ja. Dann weiterhin viel Freude damit.« Em stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung ihrer Großmutter.
Sie ging über die Dienstbotentreppe, trat hinaus auf die Straße und ließ sich durch das West End treiben, bis sie in einem Pub landete. Es war brechend voll. Die Shows hatten noch nicht angefangen, und unter die Theaterbesucher mischten sich diejenigen, die gerade den Feierabend begossen. Em suchte sich einen Barhocker, bestellte ein Lager und versank in dem Lärm aus Musik und Stimmen. Über der Bar hing ein stumm geschalteter Fernseher. Eine Nachrichtensprecherin verkündete lautlos den Tod Margaret Thatchers, während Franz Ferdinand aus den Lautsprechern tönte.
Em bestellte noch ein Lager und versucht, ihren Kopf abzustellen.
Es gelang ihr nicht.
Ihre Gedanken waren bei ihrem toten Bruder. Sie sah ihn vor sich, wie er auf seinem Bett lag, als würde er tief und friedlich schlafen, während sie auf dem Balkon stand, nur durch eine Glasscheibe von ihm getrennt. Sie war so nah gewesen und hatte nichts für ihn tun können.
Wenn sie nur niemals runtergefahren wäre, um eine zu rauchen. Er würde bestimmt noch leben. Warum hatten sie sich streiten müssen? Was war mit ihm an diesem Abend los gewesen? Wer hatte angerufen, und wem hatte er eine SMS geschickt?
Die Typen neben ihr, Anzugsträger und knappe zehn Jahre jünger als sie, prosteten ihr zu. Einer brüllte ihr ins Ohr, er würde sie von einer Feier kennen. Irgendein Konzert. Oder auch nicht.
Sie nickte, ohne zu lächeln, als könnte sie sich erinnern, trank aus und verschwand.
Am Leicester Square stieg sie in die Northern Line in Richtung Clapham, wechselte in Stockwell und stieg in Brixton aus.
Diesmal kannte sie den Weg.
Kapitel 14
A ls Frank Everett ein kleiner Junge war, lebte er mit seinen Eltern in seiner Geburtsstadt München. Sie hatten eine große Wohnung direkt an der Leopoldstraße. An den Wochenenden und in den Ferien verbrachte er viel Zeit im Englischen Garten und spielte mit seinen Freunden gern am Schwabinger Bach.
Eines Abends, er war gerade eingeschlafen, wurde er von lauter Musik geweckt. Er rannte ans Fenster und sah fünf junge Männer, die auf der Straße zusammenstanden, auf ihren Instrumenten spielten und ein Lied dazu sangen.
»Ich glaube, das ist Russisch«, sagte seine Mutter. Sie war in sein Zimmer gekommen, weil sie gehört hatte, dass er aufgewacht war. »Gefällt es dir?«
Der kleine Frank nickte. Es war halb elf, und draußen war es warm. Viele Menschen waren noch unterwegs.
»Können wir runtergehen?«, fragte er.
»Nein, Frank, es ist viel zu spät für dich. Du musst wieder ins Bett.«
Er bettelte sie an, wenigstens noch eine Weile hier am Fenster zuhören zu dürfen. Weil auch seiner Mutter die Musik gefiel, sagte sie Ja und blieb neben ihm stehen.
Allerdings dauerte es nicht lange, bis die Nachbarn die Fenster öffneten und riefen, man solle endlich mit dem unerträglichen Lärm aufhören. Ruhestörung! Belästigung! Krawall!
Ein Nachbar regte sich besonders auf. Ein Beamter, Stadtrat, sagte Franks Mutter. Einer, der es nicht erträgt, wenn andere Spaß haben. Der Nachbar kündigte laut und vernehmlich an, dass er die Polizei rufen würde.
Tatsächlich kam nach einer Weile eine Funkstreife und teilte den jungen Männern mit, dass sie aufhören müssten. Frank blieb mit seiner Mutter weiter am Fenster stehen. Sie sahen zu, wie die Männer in den Streifenwagen einsteigen mussten. Frank lachte, weil zwei von ihnen auf der anderen Seite wieder ausstiegen und wegliefen. Seine Mutter zog die Vorhänge zu und scheuchte ihn zurück ins Bett. Doch kaum, dass sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, war er wieder aufgestanden und ans Fenster geschlichen. Leise zog er die Vorhänge ein kleines Stück auseinander und presste die Nase an die Fensterscheibe.
Er sah, wie die Leute von der Straße die Polizisten beschimpften, das Auto umstellten, daran rüttelten. Er sah, wie sie die Reifen des Streifenwagens kaputt stachen, Schlägereien begannen, die Musik zurückforderten. Es dauerte die halbe Nacht. Schwabing war in Aufruhr.
In den vier darauffolgenden Nächten ging es immer weiter. Tausende von Menschen strömten auf die Straße, hielten den Verkehr auf, machten Lärm und schlugen sich mit der Polizei.
Später sollte man von den Schwabinger Krawallen sprechen. Sie hatten in München
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