Brixton Hill: Roman (German Edition)
Hünen mit stechenden blauen Augen, der sich weigerte, ihr die Hand zu geben, als sie ihm kondolieren wollte. Neben ihm stand Kimmys Freund, ein älteres Abbild des Bruders, der sich bei Ems Anblick auf dem Absatz umdrehte und den Raum verließ.
»Du bist bisher die Einzige, die in der Sache festgenommen wurde«, raunte ihr jemand zu, und Em verstand. Sie suchte in der kleinen Küche nach einer Vase für die Blumen, die sie mitgebracht hatte, fand aber keine. Also legte sie den Strauß vorsichtig in der Spüle ab und ging, ohne sich zu verabschieden.
Vor dem Haus traf sie auf Jono. Der Junge sah sie erschrocken an, als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt.
»Du verstehst das doch? Ich meine, ich hab für sie gearbeitet. Ich … Vielleicht könnte ich ja später noch …?«
»Du hast Eric doch gar nicht gekannt«, sagte Em.
»Doch, klar hab ich ihn gekannt.«
»Du hast ihn einmal gesehen.«
»Er hat mich nach Hause gebracht.«
»Denkst du, ich würde von dir erwarten, dass du deshalb Kimmys Trauerfeier ausfallen lässt?«
Jono hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Die meisten aus der Agentur wollen nachher noch zu euch.«
»Super. Dann können sie abstimmen, wo es das bessere Essen gab.«
»Mir geht’s nicht ums Essen.«
»Das weiß ich. Ich hab auch nicht dich gemeint.«
»Warum ist beides gleichzeitig?«
Em zuckte die Schultern. »Vielleicht will er wissen, wo die meisten hingehen.«
»Ich versteh nicht ganz. Dein Bruder war Anwalt, und Kimmy …«
»Jono, sie kommen nicht wegen Eric. Sie kommen meinetwegen, wegen der anderen Leute, die ich kenne, und wegen der Presse.«
»Zu einer Trauerfeier?«
»Gewöhn dich schon mal dran«, sagte Em.
Über ihnen öffnete sich ein Fenster. Ems Blumenstrauß flog auf den Bürgersteig.
Sie kam zu spät, weil die Jubilee Line stecken geblieben war. Ihre Großmutter Patricia warf ihr strafende Blicke zu, und auch Katherine und Frank hatten wenig Verständnis. Sie wussten, wo Em gewesen war. Sie hatten ihr gesagt, sie müsse »Prioritäten setzen«.
»Es ist fünf nach drei«, sagte Katherine.
»Ich kann die Uhr lesen, danke.«
Katherine sah aus, als würde sie sie am liebsten ohrfeigen. Ihr Mann legte ihr beruhigend eine Hand in den Rücken. »Dann fangen wir jetzt an«, sagte er.
Sie hatten die Räume, in denen die Zwillinge aufgewachsen waren und Em nun wohnte, für den Empfang der Trauergäste herrichten lassen. Der große Salon füllte sich mit über hundert Leuten, und es kamen immer mehr. Über dem Kamin hing ein großes Porträtfoto von Eric. Em hätte ein anderes Bild ausgesucht, aber man hatte sie nicht entscheiden lassen, so wie sie auch keine Rede halten sollte.
»Das erwartet niemand von dir. Alle wissen, wie sehr dich das alles mitgenommen hat. Wir machen das schon«, hatte Patricia gesagt.
Es war wie früher. Man schaffte Tatsachen, und Em sollte mit ihnen leben. Gefühle innerhalb dieser Familie zu lesen, fiel ihr heute genauso schwer wie damals.
Patricia saß in einem großen Sessel und begrüßte die Gäste. Sie bedankte sich dafür, dass so viele gekommen waren, um gemeinsam an ihren Enkel zu denken, den Schmerz zu teilen und Abschied zu nehmen. Es folgte eine Zusammenfassung von Erics Leben. Die Schule, die Preise, die Universität, die Auszeichnungen, die Auslandsaufenthalte, die Kanzleien.
Jeder Wikipediaeintrag klang persönlicher und herzlicher.
Seinen Tod umschrieb sie als »tragisches Ereignis«, was zustimmendes Gemurmel auslöste. Em saß neben Frank, der sich wie ein Zeremonienmeister aufführte und eine Art Ablaufplan in der Hand hielt. Er bewegte lautlos die Lippen zu Patricias Rede, als hätte er sie auswendig gelernt. Em wäre am liebsten gegangen.
Raus an die Luft. Runter ans Wasser. Weg von hier. Es war unwürdig.
Katherine erhob sich, strich ihr schwarzes, knöchel langes Abendkleid glatt und schritt zum Kamin. Sie hoc kte sich neben den Sessel, nahm Patricias Hände in ihre, schloss die Augen, nickte. Dann richtete sie sich wieder auf, wandte sich den Gästen zu und hielt ihre eigene Rede. Rührende Worte über ihre Rolle als Mutterersatz für Eric. Und natürlich Em, aber nur als Fußnote.
Wäre Em früher erschienen, ihre Tante hätte sie gezwungen, sich umzuziehen. Etwas »femininer«. Etwas »angemessener«. Em trug eine enge Bluse, eine weite Anzugshose und Derbys, wie üblich alles in Schwarz. Katherine hätte sie lieber in Kostüm und High Heels gesehen. Seit ein paar Tagen stellte sie sich die Frage,
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