Brixton Hill: Roman (German Edition)
welche Art von Abschied ihr Bruder gern gehabt hätte, und sie wusste keine Antwort. Sie hatten nie über den eigenen Tod gesprochen, und die einzige Beerdigung, zu der sie hatten gehen müssen, war die ihres Vaters gewesen: ein paar seiner Freunde, ein schlichter Sarg, eine kurze Rede, hinterher ein Essen im Pub. So hatte er es sich gewünscht – schlicht und unaufgeregt, ohne die Everetts.
Vielleicht wäre Eric diese steife, protokollarisch durchgeplante Farce sogar ganz recht gewesen. Sie stellte sich vor, was er wohl dazu sagen würde.
»Mich muss es nicht glücklich machen«, sagte Erics Stimme in ihrem Kopf.
»Aber wie willst du, dass wir dich in Erinnerung behalten?«, fragte Em zurück.
»Frag lieber, warum Katherine will, dass man sich so an sie erinnert«, sagte Erics Stimme. »Das Kleid ist eine Katastrophe.«
Fast hätte Em gelacht.
Katherine schaffte es, die Anwesenden tatsächlich zu Tränen zu rühren, sogar sich selbst. Frank reichte ihr mit großer Geste ein Taschentuch und führte sie zurück zu ihrem Stuhl, kniete sich neben sie, einen Arm um ihre Schultern gelegt, beruhigende Worte in ihr Ohr flüsternd. Em versuchte, angemessen mitgenommen auszusehen und sich Wut und Hohn nicht anmerken zu lassen. Nicht jetzt, nicht hier. Es würde nichts bringen, außer Schlagzeilen. Und Katherine wusste selbst, dass sie den Zwillingen oft genug zu verstehen gegeben hatte, wie lästig sie ihr fielen. Em hatte längst verstanden, dass sich Katherines Ablehnung auf etwas anderes bezog: auf Ruth, ihre Schwester, die Mutter der Zwillinge. Katherine hasste sie dafür, dass sie die Schönere gewesen war, dass sie Kinder bekommen hatte, sie hasste sie dafür, vor ihr geheiratet zu haben, und sie hasste sie dafür, sich einfach aus dem Staub gemacht und sie mit der Mutter allein gelassen zu haben. Sie hatte ihre Schwester ihr Leben lang gehasst. Von den Zwillingen bevorzugte sie eindeutig Eric, weil er ein attraktiver, pflegeleichter, vorzeigbarer junger Mann war, der seiner Mutter nicht ähnlich sah. Ganz anders eben als Em. Aber man konnte Zwillinge schlecht trennen.
Katherine tat es trotzdem. Sie trennte die beiden, indem sie sie ungleich behandelte. Patricia und Frank sahen ihr dabei zu.
Der nächste Redner war ein alter Schulfreund von Eric. Er hieß James, es folgte ein unwichtiger, aber bedeutungsschwanger von Frank vorgetragener Adelstitel, als er ihn vorstellte, und Em konnte sich nur schwach daran erinnern, dass Eric tatsächlich früher von diesem James erzählt hatte. James hielt eine überraschend liebevolle und auch witzige Rede auf Eric, sodass auch Em den Tränen nahe war. Danach stand Alex auf, um einen schlichten, schönen Nachruf zu halten.
Als es vorbei war, drängte sich Em zum Buffet und ließ sich gleich zweimal Champagner nachschenken. Sie glaubte nicht, den Tag anders durchhalten zu können. Langsam schoben sich die Gäste auf sie zu, um ihr zu kondolieren. Eine nahezu endlose Reihe fremder Gesichter über schwarzer Kleidung wand sich an ihr vorbei, die immer selben Worte wurden gesagt. Die älteren Herrschaften rochen leicht nach Mottenkugeln, der Rest wehte ihr mit den unterschiedlichsten Duftwässern entgegen. Einige wenige taten ihr den Gefallen, nach Nikotin zu riechen. Mindestens ein Drittel hatte Mundgeruch. Em glaubte, explodieren zu müssen. Jemand reichte ihr ein viertes Glas Champagner – es war Alex. Die Reihe der Kondolierenden ebbte langsam ab, vielleicht wollten sie aber auch nur noch schnell etwas vom Buffet abhaben, bevor es leer geräumt war. Em weinte, ohne sich dafür zu schämen. Die Reporter, die sich eingeschlichen hatten, machten so unauffällig wie möglich Fotos. Sie merkte es trotzdem, sagte aber nichts. Auch sonst war niemand daran interessiert, sie hinauszuwerfen. Em sah Gesichter, die eigentlich bei Kimmys Abschied hätten sein sollen. Sie trank ein fünftes Glas Champagner und sah die beiden wieder vor sich, Kimmy, wie sie fiel, und Eric, wie sie ihm die Sauerstoffmaske vom Gesicht nahmen, weil er längst tot war.
Das sechste und siebte Glas, dann hörte sie auf zu zählen. Em war jetzt in ihrem Schlafzimmer, aber nicht allein. Zu viele Menschen waren gekommen. Sie verteilten sich auf alle Räume, die nicht abgeschlossen waren. Sie saßen und standen auch im Treppenhaus herum. Patricia hatte wohlweislich ihr Stockwerk abgeschlossen, ebenso hatten Katherine und Frank ihre Wohnung den Gästen mit einem dezenten, aber wirkungsvollen Hinweisschild
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