Brixton Hill: Roman (German Edition)
schlafen konnte, durch den Park, lief vor bis zur Pierspitze des Thurrock Yachtclubs und setzte sich im Schneidersitz auf den kalten Steinboden. Dort rauchte es zwei, manchmal drei Zigaretten, dann ging es zurück nach Hause. Das Kind nahm es meistens mit, weil es dann eine Ausrede hatte, warum es morgens durch die kalte Dunkelheit lief. Manchmal saß das Mädchen auch abends dort, je nachdem, wie es zu Hause wegkam. Es liebte den Dieselgeruch der Schiffe, und es sah gern den Fischerbooten, den Yachten, den Frachtschiffen nach. Es mochte den Umstand, dass der Fluss immer anders war, sogar, wenn man jeden Tag zur selben Uhrzeit ans Ufer kam. Wenn es mal nicht runter zum Fluss gehen konnte, stand es lange an seinem Fenster und schaute aufs Wasser. Es wünschte sich, einfach mitfließen zu können, raus aufs Meer. Es war noch nie in London gewesen, obwohl Grays nur wenige Meilen östlich der Metropole am Nordufer der Themse lag. Wenn man ein Auto besaß, konnte man in einer Stunde in der Londoner Innenstadt sein, aber da gab es nur Touristen. Und im Rest von London, so sagte man, sei es auch nicht besser, eher schlimmer. Aber es war schon mit seinen Eltern in Walton-on-the-Naze gewesen, direkt am Meer. Eine Tante oder Cousine ihrer Mutter wohnte dort. Das Meer reichte bis zum Horizont und wirkte klar, rein und ehrlich. In seinen Augen bedeutete es Freiheit und Vergessen.
Das Mädchen saß also, wie fast jeden Morgen, am Themseufer. Es war noch dunkel, und es waren so gut wie keine anderen Menschen unterwegs. Das Mädchen liebte seine Ruhe mindestens genauso, wie es den Fluss liebte.
An diesem Morgen spülte ihm der träge schwarze Fluss etwas vor die Füße. Nicht direkt vor die Füße natürlich, es saß ja auf dem Pier. Aber etwas war in der Nacht gegen das Pier geprallt, hing nun dort fest und wurde durch das abnehmende Wasser (in zwei Stunden würde die Ebbe ihren Tiefststand erreicht haben) sichtbar. Es war lang, fast zwei Meter, und es trug Kleidung. Es sah nicht aus wie ein Mensch, nicht mehr, denn das dreckige Flusswasser hatte die Verwesung beschleunigt, aasfressende Vögel hatten ebenfalls ihren Teil beigetragen. Das Mädchen konnte – glücklicherweise – nicht sehr viel davon sehen. Es war Neumond, und der Nebel schluckte das Licht. Aber es erkannte, dass dort eine Gestalt lag. Ohne lange nachzudenken, riss es den Kinderwagen mit sich, ließ seinen Jungen schreien und rannte direkt in den Hafenmeister, der gähnend mit seinem Rundgang begonnen hatte. Er hatte eine Taschenlampe dabei und brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass dem angespülten Etwas nicht mehr zu helfen war. Kurz überlegte er, runterzugehen und nach Wertgegenständen zu suchen, aber das, was er im Schein seiner Taschenlampe sah, ließ ihn lieber gleich nach seinem Handy tasten und die Polizei anrufen.
Kapitel 21
F ür Kimmy Rasmussen gab es eine kleine Trauerfeier in ihrer Wohnung in Bermondsey. Kimmys Eltern und ihr ältester Bruder blieben in Kanada. Es hieß, sie seien gesundheitlich nicht in der Lage, die Reise auf sich zu nehmen. Es gab Vermutungen, dass sie es auch und vor allem finanziell nicht einrichten konnten. Die Rasmussens hatten sich mit Investitionen in den USA verspekuliert und während der Finanzkrise alles verloren. Seitdem zählte jeder Dollar. Kimmys jüngerer Bruder war nach London gekommen, um sich um ihren Nachlass zu kümmern und die Überführung zu organisieren.
Die Trauerfeier fand am selben Tag und zur selben Zeit statt wie die für Eric Vine. Em hatte versucht, Kimmys Bruder zu überreden, wenigstens eine andere Uhrzeit anzusetzen, aber er blieb seltsam stur und verhielt sich, als mache er Em für den Tod seiner Schwester verantwortlich.
»Warum verlegt ihr nicht eure Trauerfeier?« Er klang biestig und gereizt und legte kurz danach auf.
Em ging über eine Stunde vor dem offiziellen Beginn zu Kimmys Wohnung und wurde von einer ihrer Mitbewohnerinnen mit hochgezogenen Augenbrauen begrüßt und hereingelassen. Sie war nicht die Erste, wie sie angenommen hatte. Offenbar waren nicht wenige auf dieselbe Idee gekommen, um anschließend pünktlich bei Erics Trauerfeier sein zu können. Sie sah viele Leute aus der Branche, die Kimmy nicht wirklich nahegestanden hatten, sich aber ein Sehen und Gesehen werden erhofften, erst hier, dann beim Abschied von Eric Vine. Em spürte die Blicke, mit denen sie empfangen wurde. Es waren feindselige darunter. Sie kamen von Kimmys Bruder, einem sehr blassen, schwarzhaarigen
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