Brixton Hill: Roman (German Edition)
schnell. Er traf viele kluge Menschen, die ihm zeigten, wie wichtig es war, die Zusammenhänge zu kennen. Historisch, wirtschaftlich, soziologisch, psychologisch. Tobs stürzte sich in sein Studium, belegte sogar noch weitere Kurse, die er gar nicht brauchte, verbrachte seine freie Zeit entweder im Occupy-Camp oder in der Bibliothek. Er diskutierte mit interessanten Leuten, informierte sich über die anderen Occupy-Bewegungen, half mit, Demos und Aktionen zu organisieren. Tobs kam kaum mehr zum Schlafen. Er war begeistert und ganz in seinem Element. Endlich hatte er seine Aufgabe im Leben gefunden: der Kampf gegen die ganz große Ungerechtigkeit. Sein Anspruch an sich selbst lautete: die Welt retten.
Er überredete seine Eltern, ihn weiter in London studieren zu lassen. Erst jammerten sie, weil die Studiengebüh ren und Lebenshaltungskosten für ihren Sohn scheuß lich hoch waren. Aber dann sagten sie sich: Er bringt gute Leistungen. Er ist glücklich. Wir wollen ihm nicht im Weg stehen. Tobs bekam sogar noch ein Stipendium, was seine Eltern finanziell etwas entlastete. Und er machte weiter mit seinem politischen Engagement. Seine Eltern waren nicht arm, und in Wirklichkeit tat ihnen die finanzielle Unterstützung für ihren einzigen Sohn nicht sehr weh. Allerdings waren sie, wie die meisten wohlhabenden Leute aus der bürgerlichen Mittelschicht, sehr darauf bedacht, ihr Geld beisammenzuhalten. Beide waren sie verbeamtet, beide arbeiteten sie Vollzeit, und seit Tobs’ Geburt zahlten sie monatlich auf ein Konto ein, das sie für ihn eingerichtet hatten und von dem er erst wissen sollte, wenn sie es für richtig hielten.
Von den Fette-Mieten-Feten hatte Tobs bereits gehört, bevor er nach London gegangen war. Schon damals hatte er die Idee großartig gefunden. In Marburg gab es nur keinen Grund für solche Feten. In London jede Menge. Besonders nachdem die Finanzkrise vergeben und vergessen zu sein schien: Es dauerte nicht lange, da lagen die Mieten weit über dem Stand, den sie vor der Krise gehabt hatten. Occupy hatte nichts gebracht. Die Banker gingen straffrei aus und machten weiter wie bisher. Alle anderen mussten zahlen. Höhere Steuern, höhere Lebenshaltungskosten, höhere Mieten. Die Welt wurde noch ungerechter als zuvor. Die Gentrifizierung der einst erschwinglichen Stadtteile ging schneller voran als befürchtet. Tobs wohnte eine Zeit lang in Brixton, wie viele Studenten. Er hatte es geliebt, wie ranzig und abgerissen alles um ihn herum wirkte. Dann waren die jungen Familien gekommen. Dann die Renovierungen und noch mehr Familien. Dann die höheren Mieten. Die poshen Cafés. In Brixton. Es war nicht zum Aushalten.
Tobs Schneider zog in ein besetztes Haus in Greenwich, erinnerte sich wieder an die Fette-Mieten-Feten und initiierte selbst welche. Er achtete darauf, dass die Proteste halbwegs ordentlich über die Bühne gingen. Er wollte keine Angriffsfläche bieten. Es sollte nicht heißen: Das sind doch nur Chaoten und Kriminelle. Seit einem Jahr waren seine Feten legendär, und es hatte niemals ernsthaften Ärger mit der Polizei gegeben, worauf er sehr stolz war. Die Presse hatte die Feten sofort aufgegriffen und – abgesehen von Zeitungen wie der Daily Mail – positiv reagiert. Besonders wurde gelobt, und das war Tobs sehr wichtig gewesen, wie höflich die Feiernden zur Polizei gewesen waren.
Höflich, zuvorkommend, verbindlich. Gut gelaunt sogar.
Aber dann war etwas schiefgegangen.
Auf einer Fete vor etwa drei Monaten – in einem Braidlux-Gebäude auf der Isle of Dogs – war statt der Polizei ein Anwalt aufgetaucht. Der hatte ihnen ausführlich dargelegt, wegen welcher Vergehen sie verhaftet und angeklagt werden konnten, und welche Strafen voraussichtlich auf sie zukamen. Einige von ihnen hatte das eingeschüchtert. Der Anwalt hatte sie aber nicht gehen lassen. Er hatte alle möglichen Fragen gestellt. Was jeder Einzelne von ihnen tat, wie sie lebten – alles hatte er wissen wollen. Dann hatte er sie gewarnt, was weitere Aktionen betraf. Unter denen, die er nervös gemacht hatte, befand sich auch ein Programmierer und Hacker, Miles. Der Anwalt sagte zu ihm: »Was macht jemand wie Sie denn hier?« Und Miles war auf der Stelle eingeknickt. Tobs hatte Miles noch nie besonders gemocht, aber dass sich Miles an den Anwalt ranwarf, sich sogar dessen Nummer aufschreiben ließ, »falls es mal nötig wird«, legte doch eindeutig dessen zutiefst konservativ-bürgerliche Gesinnung offen. Miles war also
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