Brixton Hill: Roman (German Edition)
einer von denen, die es für eine Weile schick fanden, sich gegen das zu stellen, was ihnen ihr Elternhaus mitgegeben hatte, um dann wieder in den warmen, sicheren Schoß der gesetzestreuen Angepasstheit zurückzukehren, die ein geregeltes Einkommen garantierte. Tobs verabscheute solche Typen. Er setzte alles dran, um nicht eines Tages selbst zu ihnen zu gehören. Die Gefahr war nämlich sehr groß.
Seit diesem Tag also war Miles verschwunden. Nicht wirklich »verschwunden« im Sinne von untergetaucht oder unauffindbar. Nur verschwunden aus dem Umfeld der Aktivisten. Sein Twitteraccount lag brach, auf Mails reagierte er nicht mehr, und bei keiner einzigen Fete ließ er sich blicken. Auf einen wie ihn konnte man verzichten.
Allerdings war es seit Miles’ Verschwinden immer wieder zu Problemen bei Aktionen gekommen. Problemen, die es sonst nicht gegeben hatte. Die Polizei war beispielsweise schon im Vorfeld über Kundgebungen informiert und konnte sie verhindern. Nach einer Graffiti-Aktion waren die Künstlerinnen festgenommen worden. Es gab einen Maulwurf, einen Spion, eine undichte Stelle, und das, obwohl sie Miles aus jedem Verteiler genommen hatten. Tobs hatte mit niemandem über seinen Verdacht gesprochen, um keine Unruhe zu stiften, aber sämtliche Passwörter an seinem Rechner geändert. Er hatte geglaubt, damit sei die Sache ausgestanden. Tobs war kein Hacker. Er konnte Computer bedienen, aber er hatte keine Ahnung davon, wie sie in der Tiefe funktionierten.
Als nun die Polizei heute wieder viel zu schnell die Fete aufgelöst hatte, wusste Tobs, dass Miles immer noch seine Korrespondenz mitlas und ihn ausspionierte, mehr noch: ihn und alles, woran er glaubte, verriet. Tobs hatte die Beherrschung verloren und die Polizisten erst angeschrien, dann beschimpft, schließlich geschubst. Daraufhin hatten sie die Wohnung recht unsanft geräumt, und als Tobs sah, wie eine Frau, die ihr Kind dabeihatte, an d en Schultern gepackt und zur Tür hinausgestoßen wur de, hatte er rot gesehen und war auf den Polizisten losgegangen. Der hatte ihn an der Kapuze aus der Wohnung geschleift. Er stieß ihn sogar so fest in Richtung Treppe, dass Tobs ein paar Stufen hinunterpolterte. Im allgemeinen Gedränge lief er mit nach unten. Er sah, wie die schwangere Frau hinfiel, und half ihr auf. Der Polizist stieß ihn wieder. Tobs fing sich, drehte sich um und schlug ihm ins Gesicht. Dabei schrie er ihn an. Er nannte ihn einen Verräter, eine feige Sau und vermutlich noch ein paar andere Dinge, die ihm selbst nicht so recht bewusst waren, weil er nur noch die Explosion in sich spürte, den Hass auf diesen Mann in Uniform, der alles verkörperte, gegen das Tobs kämpfen wollte – bis zum bitteren Ende, komme, was wolle. Dass es zu nicht geringen Teilen auch der Hass auf seine eigene spießige, aber privilegierte Herkunft war, darüber wollte Tobs nicht wirklich nachdenken. Er fühlte sich in solchen Momenten als Rächer der Armen, Sprecher des Proletariats, Kämpfer der Gerechtigkeit. Ein bisschen Karl Moor, ein bisschen Robin Hood, in jedem Fall tragischer Superheld mit einer edlen Mission.
Tobs, getragen von dieser Welle, brüllte den Polizisten nieder, griff ihn an und provozierte damit dessen Gegenwehr, die noch viel überzogener ausfiel als Tobs’ eigener Hassanfall. Der Polizist – vollkommen übermüdet nach einer Doppelschicht und ohnehin gereizt, weil er seit der Geburt seiner Tochter vor fünf Wochen nie richtig zum Schlafen kam – war ausgerastet und hatte auf ihn eingeschlagen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Selbst als Tobs kein Wort mehr sagte, schlug er noch auf ihn ein, bis jemand auf ihn sprang und ihn umstieß.
Tobs war irgendwann ohnmächtig geworden. Davon, dass ihm eine junge Frau vermutlich das Leben gerettet hatte, bekam er nichts mit. Er kam kurz zu sich, als die Sanitäter ihn in die Notaufnahme schoben. Das nächste Mal wurde er erst wieder im Aufwachraum nach der Operation wach. Der Polizist hatte ihm Schlüsselbein und Nase gebrochen. Die Platzwunde am Kopf hatte schlimmer ausgesehen, als sie letztlich war, durch sie hatte er aber einiges an Blut verloren. Außerdem hatte er eine schwere Gehirnerschütterung und konnte auf einem Auge nur verschwommen sehen. Ein Arzt teilte ihm mit, dass man das Auge beobachten und möglicherweise operieren müsse. Den Namen des Polizisten, der ihn so zugerichtet hatte, erfuhr er vorerst nicht. Auch von der jungen Frau, die ihm beigestanden hatte, sagte ihm keiner
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