Brixton Hill: Roman (German Edition)
Sie stürmte die Treppen hinunter, fünf Stockwerke, eine Ewigkeit. Als sie auf die Straße kam, stand der Polizist mit dem Rücken zu ihr über den Jungen mit dem Kapuzenpulli gebeugt. Ohne zu zögern, rannte sie auf den Uniformierten zu, packte ihn und riss ihn zu Boden. Er schrie überrascht auf, ließ noch im Fallen den Schlagstock los. Sie kniete sich auf seinen Rücken, drückte ihm den Kopf auf den Asphalt. Der Stock blieb vor den Füßen des Jungen liegen. Em schrie die beiden Frauen an, die zugesehen hatten, damit sie dem Jungen halfen. Sie regten sich nicht. Em beugte sich vor, griff sich den Schlagstock.
»Ich kann damit umgehen, wenn es sein muss.«
Der Polizist wimmerte.
»Liegen bleiben«, sagte sie zu ihm. Dann rutschte sie von ihm runter. Nur am Rande registrierte sie, dass der Mann so gut wie keine Gegenwehr geleistet hatte und auch jetzt keine Anstalten machte aufzustehen. Em kniete sich neben den Jungen, befühlte ihn vorsichtig, strich ihm über den Kopf. Sein Haar war warm, feucht und klebrig. Als sie ihre gesunde Hand betrachtete, war diese voller Blut.
Wie auch der Schlagstock des Polizisten, den sie in der anderen Hand hielt.
Wie auch das Gesicht des Polizisten, der sich nun weinend neben ihr auf dem Boden zusammenkrümmte.
Wieder schrie sie die beiden Frauen an. Riss sie aus ihrer Schockstarre, ließ sie einen Notarztwagen rufen. Sie schrie den Jungen an, flehte ihn an, bettelte darum, dass er aufwachte. Sie drehte ihn auf den Rücken, hob seinen Oberkörper an, setzte sich hinter ihn, damit sie ihn stützen konnte.
Der Verband an ihrer linken Hand hatte sich mit seinem Blut vollgesogen. Sie spürte sein warmes Blut auf ihrem Bauch, als es durch ihr Shirt drang. Em sah sich nach etwas um, mit dem sie die Blutung aufhalten konnte. Sie befahl der Schwangeren, ihr Halstuch rauszurücken, was sie nur zögerlich tat. Em drückte es dem Jungen auf die Wunde am Kopf.
»Er wollte mir nur helfen«, jammerte die Frau.
»Ich hab’s gesehen. Und dann?«
»Der ist ausgerastet. Der hat einfach angefangen, auf ihn einzuschlagen.«
»Einfach so, ja?«
»Tobs hat ihn beschimpft.«
Tobs war offenbar der im Kapuzenpulli.
»Okay«, sagte Em.
»Der ist ausgerastet. Er hat gebrüllt, ›Sag das nie wieder zu mir‹, so in der Art.«
»Was hat Tobs denn zu ihm gesagt?«
Die Schwangere hob die Schultern und fing an zu schluchzen. Die andere Frau zündete sich eine Zigarette an. Sie war kreidebleich und zitterte so stark, dass ihr die Kippen aus der Schachtel gefallen waren und sie ewig brauchte, um sie einzusammeln.
Mit den Fingerspitzen der verbundenen Hand tastete Em nach Tobs’ Puls: schwach, aber spürbar. Von Ferne waren Sirenen zu hören. Sie hoffte, dass es der Notarztwagen war, den die Frauen gerufen hatten.
Dann sah sie zu dem Polizisten rüber. Er weinte immer noch. Aber er hatte sich aufgesetzt und angefangen, sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Tobs’ Blut. Er war noch jung. Mitte zwanzig vielleicht. Etwa im selben Alter wie Tobs.
Die Sirenen kamen näher.
»Hey, du«, rief sie dem Polizisten zu. »Komm her. Press das auf die Wunde. Na los.«
Er stand auf, schluchzte, tat aber, was sie ihm sagte.
»Ganz fest draufpressen. Und jetzt setz dich hinter ihn. So wie ich.« Sie tauschten die Plätze, hochkonzentriert und mit größter Vorsicht. Als der Polizist ganz die Kontrolle über den Jungen mit dem Kapuzenpulli hatte, stand sie auf, sah sich kurz nach Jay um, entdeckte ihn aber nicht. Er war vielleicht auf der anderen Seite des Gebäudes, wo die Streifenwagen geparkt hatten. Es war egal. Jay würde zurechtkommen.
Sie musste jetzt verschwinden.
Kapitel 28
T obs hieß eigentlich Tobias Schneider und stammte aus der Nähe von Marburg in Hessen, wo er auch mit seinem Wirtschaftswissenschaftenstudium begonnen hatte. Eigentlich hatte er nur für ein Jahr nach London gehen wollen, dann wieder zurück nach Deutschland, wenn auch nicht unbedingt wieder nach Marburg. Dort gab es ihm nämlich zu viele Burschenschaftler mit rechtslastigem Gedankengut, und mit denen hatte er sich schon oft genug angelegt. Es wurde langsam langweilig. Tobs sehnte sich nach neuen Gegnern.
In London fand er sie. Kaum war er dort, wurde auch schon Occupy London ins Leben gerufen, und statt sich voll und ganz auf sein Studium zu konzentrieren, schloss er sich der Bewegung an. Er war ohnehin schon seit einiger Zeit unsicher, ob er das richtige Fach gewählt hatte.
Diese Zweifel legten sich allerdings
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