Brixton Hill: Roman (German Edition)
den Jungen losgegangen ist, und da konnte ich ja schlecht einfach weitergehen. Also.«
»Zufällig, ja?«
Em hob die Schultern. »Ja. Klar.« Sie nahm Linda die Cornflakesschachtel ab und kippte sich eine große Portion in den Teller.
»Aber du hast nicht auf den Krankenwagen gewartet, und du hast niemandem gesagt, wer du bist, und jetzt will der Typ wissen, bei wem er sich bedanken kann, und du meldest dich nicht?«
»Ich schreib ihm eine Karte.« Em angelte sich die Milch und goss sie über die Cornflakes.
»Ich hab deine Narben gesehen. Und ich hab dir meine gezeigt. Ein bisschen mehr Ehrlichkeit hätte ich da schon erwartet«, sagte Linda leise.
Im ersten Moment dachte Em, das Mädchen würde einen Scherz machen. So viel Pathos zu so früher Stunde, das musste ein Scherz sein. Aber als sie sie ansah, verstand sie, dass Linda es ernst meinte.
»Ich werde noch aus einem anderen Grund gesucht.« Em deutete auf das Smartphone. »Der Tote in der Themse. Die Polizei denkt, dass ich das war.«
Linda ließ ihren Apfel sinken. »Du hast jemanden in die Themse …?«
»Nein. Aber sie denken es.«
»Und der ist ermordet worden?«
»Ja.«
»Und gestern wollte dich jemand in der Themse ermorden?«
»Ja.«
»Und dann kannst du nicht zur Polizei gehen und sagen: Seht mal, ich kann das nicht gewesen sein, aber wahrscheinlich hat derselbe Typ, der mich ins Wasser ge worfen hat, den anderen Typen auch ins Wasser geworfen? «
»Nein.«
»Nein, es war nicht derselbe Typ, oder nein, du kannst nicht zur Polizei gehen?«
Em ließ sich gegen die Couch sinken und legte den Kopf zurück. »Sie werden mir nicht glauben. Es geht schon seit Wochen hin und her. Erst ist etwas Schreckliches passiert, das eine Freundin von mir in den Tod getrieben hat. Dann wurde mein Bruder ermordet, wobei ich glaube, dass man es auf mich abgesehen hatte. Und jetzt ist der Typ tot, der mich monatelang vorher gestalkt hat. Ich dachte erst, er hätte das alles angerichtet, aber jetzt glaube ich, dass er mich einfach nur warnen wollte und wusste, wer hinter mir her ist. Und deshalb …«
»Deshalb ist er tot?«
»Ja. Ich glaube schon.«
»Scheiße.«
»Ja.«
»In was bitteschön bist du denn da reingeraten? Ich meine, wer bist du? Normalen Leuten passiert das doch nicht.«
»Meine Familie hat Geld. Ich glaube, es hat was damit zu tun.«
»Und du?«
»Mich kennt man … in gewissen Kreisen.«
»Was für Kreise?«
»Meine Güte, was studierst du?«
»Musik.«
»Du solltest auf Jura wechseln. Oder Journalismus. Mit deiner Fragerei wirst du’s weit bringen.«
»Ich spiele exzellent Cello.«
»Glückwunsch.«
»Ehrlich!«
»Ich meinte das auch ehrlich. Ich spiele gar kein Instrument.«
»In welchen Kreisen kennt man dich?«
»Google doch mal Emma Vine.«
Linda hob die Augenbrauen. »Oh. Das muss ich nicht googeln.«
»Aha?«
»Na, in meinem … Job trifft man auch alle möglichen Leute. Und ein paar von diesen Leuten geben gern damit an, wen sie alles kennen.«
»Äh, ja?«
»Nein, keine Exlover von dir oder so was! Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Nur Typen, die stolz erzählen, dass sie auf Partys und Premieren und Galas waren, die du organisiert hast. Einer hat sogar Fotos gezeigt, wo er Backstage mit ein paar wichtigen Leuten rumstand.« Linda lächelte. »Tja, in gewissen Kreisen kennt man dich. Stimmt.«
»Wow. Und so was merkst du dir.«
»Ich versuche, mir alles zu merken. Ich mache mir Notizen. Weiß ja nie, was mal wichtig sein kann. Also, später.«
Em sah Linda neugierig an. »Später?«
»Man trifft sich immer zweimal, heißt es doch. Ich will … vorbereitet sein.«
»Falls dich jemand erpresst?«
Jetzt machte Linda auf geheimnisvoll, oder vielleicht wollte sie das Thema auch nur wechseln, weil die Badezimmertür aufging und Becca singend über den Flur hüpfte. »Wer weiß.«
»Alles klar«, sagte Em leise und zwinkerte ihr zu.
Becca gesellte sich zu ihnen, und Em ließ die Mädchen plaudern. Sie erfuhr, dass die beiden aus Canterbury stammten, sich aber erst am King’s College, wo sie beide Musik studierten, kennengelernt hatten. Als Escorts zu arbeiten, war Beccas Idee gewesen. Die hübsche Blondine hatte nichts von der dunklen Aura, die Linda umgab, und Em vermutete, dass Becca die größten Enttäuschungen im Leben noch vor sich hatte, während Linda jetzt schon auf alles vorbereitet, gegen alles gewappnet war. Zwei Mädchen aus derselben Stadt in Kent. Beide aus einfachen Verhältnissen,
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