Brixton Hill: Roman (German Edition)
versuchte, ihn von der Tür wegzustoßen.
»Du kannst da nicht hingehen!«, schrie er sie an.
»Warum nicht?«
»Weil irgendeiner von denen will, dass du stirbst!«
Kapitel 37
W ikiLeaks war tot. Schon seit ein paar Jahren. Der letzte große Coup, nachdem monatelang nichts wirklich Interessantes passiert war – abgesehen von den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Julian Assange, aber das war eine andere Geschichte –, der letzte große Coup also war die Veröffentlichung von fast zwei Millionen bislang geheimer Dokumente aus der Kissinger-Ära, den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Nur dass es kein großer Coup war. Und dass auch Dokumente darunter waren, die nie eine Geheimhaltungsstufe gehabt hatten. Oder keine besonders hohe. Es hatte etwas von einer Verzweiflungstat. Es war ein »Schaut her, es gibt uns noch«. Es war letztlich nichts anderes als Datenjournalismus: Dokumente wurden digital aufbereitet und öffentlich zugänglich gemacht, um eine individuelle Recherche zu ermöglichen oder zu vereinfachen.
Es war langweilig.
Vierzig Jahre altes Material, das hieß: Sie hatten nichts Neues. Woher auch. Seit 2010 konnte man WikiLeaks online nichts mehr gesichert zuspielen.
Wollte man heute etwas leaken, tat man das, was man vor WikiLeaks schon getan hatte: Man wandte sich an die Presse. Die hatte von WikiLeaks eine Menge gelernt. Thema Datensicherheit. Thema internationale Recherche. Thema Verfügbarkeit der Ansprechpartner. Thema Veröffentlichungsmöglichkeiten. WikiLeaks war wichtig gewesen. Jetzt war es überflüssig geworden.
Miles schnürte sein Datenpaket und schickte es auf hochgesichertem Weg an den Journalisten, der für die Daily Mail arbeitete und mit dem er heute Kontakt aufgenommen hatte. Normalerweise wäre die Vorbereitungszeit länger. Aber Miles hatte keine Wahl gehabt. Es musste schnell über die Bühne gehen. Nachdem sich Emma Vine von den Toten zurückgemeldet hatte, bestand Handlungsbedarf.
Und nicht nur an die Daily Mail würde das Überraschungspaket gehen, sondern auch an Scotland Yard direkt, um die Dinge zu beschleunigen. Miles war gut im Spurenverwischen und im Verschleiern der digitalen Identität. Er machte sich keine Sorgen, dass ihn irgendjemand finden würde. Nicht wegen dieses Leaks. Und auch sonst nicht. Er hatte seine Flucht längst geplant.
Miles Fielding würde von dem brisanten Material in den nächsten Tagen sehr viel in den Medien hören, sehen und lesen. Sein letzter Auftrag, seine letzte große Tat. Vorerst.
Dann verschwand er unauffällig aus dem Büro, nahm die Northern Line bis King’s Cross, wo er sein Gepäck bereits am Vortag in einem Schließfach verstaut hatte, kaufte ein Ticket bis Edinburgh und nahm zehn Minuten später den Zug. Von dort aus musste er weiter nach Inverness, wo ihn seine Schwester entweder mit dem Auto abholte, oder er würde übernachten und am nächsten Tag weiter mit dem Zug hoch in den Norden nach Thurso fahren. Dort lebte sie in einem kleinen, langweiligen Reihenhäuschen und rettete irgendwelche seltenen Vögel, Fische oder anderen Viecher.
Niemand würde sich die Mühe machen, bis ins abgelegene Thurso zu fahren, um nach ihm zu suchen. Miles hatte auch nicht vor, besonders lange dort zu bleiben. Nur bis sich die Wogen geglättet hatten und er sicher sein konnte, dass tatsächlich niemand hinter ihm her war. Dann würde er sich auf eine der Inseln absetzen. Vielleicht sogar gleich auf die Shetlandinseln. Vielleicht noch weiter weg. Färöer. Vielleicht nach Island. Er hatte keine Ahnung, was er dann machen wollte, wovon er leben würde. Er wollte nur aus der Schusslinie.
Es war nicht das schlechte Gewissen, das Miles die Flucht antreten ließ. Es war die Angst, die Konsequenzen seiner Machenschaften ziehen zu müssen.
Kapitel 38
I n Samirs kleinem Laden waren drei weitere Gäste. Einer saß an einem der drei Rechner, die anderen beiden rührten in ihren Kaffeetassen herum und schwiegen sich an. Die Stimmung wirkte so trüb wie das Wetter. In Samirs Hinterzimmer allerdings kochte Jay vor Aufregung fast über.
»Wer war das?«, rief er. »Wenn du es nicht warst, wer war das?«
»Wenn es direkt an die Presse ging, und dann auch nur an eine einzige Redaktion, war es wohl eher ein Mitarbeiter-Leak. Ein ehemaliger Mitarbeiter vielleicht, der gefeuert wurde und es ihnen heimzahlen will. Vielleicht auch eine enttäuschte Ehefrau.« Samir grinste. »Jetzt haben wir sie, jetzt haben wir sie! Ich kann hierbleiben!«
Auch
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