Brockmann Suzanne
sein, zu ihrem Fenster hoch. Was um Himmels willen sollte er nur tun?
4. KAPITEL
C olleen hatte die E-Mail noch spät am Abend ausgedruckt und hielt sie jetzt in der Hand, als sie sich Bobby näherte.
Er saß genau da, wo er gesagt hatte, dass er sein würde, als er anrief – auf dem grasbewachsenen Hang am Ufer des Charles River. Er schaute aufs Wasser und nippte an einem Becher heißen Kaffee.
Als er sie kommen sah, stand er auf. „Danke, dass du gekommen bist“, rief er.
Er wirkte so ernsthaft. Nicht einmal ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Vielleicht war er auch einfach nur nervös. Schwer zu sagen. Anders als Wes, der noch heftiger als sonst herumzappelte, wenn er nervös war, ließ Bobby sich nie etwas anmerken.
Er wippte nicht nervös mit dem Fuß, mahlte nicht mit den Zähnen, kaute nicht an seiner Unterlippe.
Er spielte auch nicht mit seinem Kaffeebecher, sondern hielt ihn einfach nur ganz ruhig in der Hand. Es war ein großer Becher. In seiner Hand wirkte er winzig. Colleen würde für diesen Becher beide Hände brauchen.
Er stand einfach nur da und sah ihr ruhig entgegen.
Angerufen hatte er schon um halb sieben am Morgen. Sie war gerade erst eingeschlafen, nachdem sie sich die ganze Nacht im Bett hin und her gewälzt hatte. Immer wieder war sie gedanklich alles durchgegangen, was sie am Abend zuvor gesagt und getan hatte, um herauszufinden, welchen Fehler sie eigentlich begangen hatte.
Dabei war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie so gut wie alles falsch gemacht hatte. Das fing damit an, dass sie wegen ihres Autos geweint und endete damit, dass sie sich dem Mann förmlich an den Hals geworfen hatte.
Als er anrief, entschuldigte er sich erst einmal dafür, dass er so früh schon störte. Er wisse leider nicht, wann sie zur Arbeit müsse, erinnere sich aber daran, dass sie mit dem Transporter unterwegs sein würde und dass sie sich quasi zum gemeinsamen Frühstück verabredet hatten.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er bis zum Frühstück bleiben sollen.
Aber das hatte er nicht getan. Weil er dummerweise davon überzeugt war, dass er seinen Freund Wes hinterging, wenn er sich auf eine Affäre mit ihr einließ.
Ausgerechnet Wes, dem er vermutlich schon unzählige Male das Leben gerettet hatte! Zum Beispiel anscheinend gerade erst vor wenigen Wochen.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass du mir das nicht erzählt hast“, fiel sie mit der Tür ins Haus, ohne auch nur Guten Morgen zu sagen. „Du bist angeschossen worden.“ Damit hielt sie ihm die E-Mail unter die Nase, die Wes ihr geschickt hatte.
Er nahm das Blatt Papier und überflog rasch den Text. Sehr lang war die Mail nicht. Sie bestand eigentlich nur aus einem kurzen, schnellen und grammatisch äußerst kreativen „Hallo“ von Wes, der natürlich nicht darauf einging, wo er war, sondern vermutlich nur wissen wollte, ob sein Freund auch wirklich nach Boston geflogen war, und dabei ganz beiläufig erwähnte, dass Bobby bei seinem letzten Einsatz angeschossen worden war.
Sie seien irgendwo gewesen, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatten, beschrieb Wes den Einsatz so vage wie nur irgend möglich, und dann seien sie aufgrund eines dummen Zufalls entdeckt worden. Männer mit automatischen Waffen fingen an zu feuern, Bobby stellte sich schützend vor Wes, fing sich ein paar Kugeln ein und rettete Wes damit das Leben.
„Sei nett zu ihm“, schrieb Wes weiter. „Er ist beinah draufgegangen. Eine Kugel in den Allerwertesten, und seine Schulter tut ihm immer noch weh. Sei lieb zu ihm. Ich ruf dich an, sowie ich wieder in den Staaten bin.“
„Wenn er mir all das in einer E-Mail mitteilen darf“, empörte Colleen sich, „dann hättest du mir gegenüber wenigstens andeuten können, was passiert ist. Du hättest mir sagen können, dass du angeschossen wurdest, statt mich glauben zu lassen, du hättest dich ganz normal im Alltag verletzt, dir beispielsweise beim Basketball eine Muskelzerrung geholt.“
Er gab ihr das Blatt Papier zurück. „Ich dachte, das wäre keine für dich nützliche Information“, gab er zu. „Ich meine, was hast du denn davon, wenn ich dir sage, dass vor wenigen Wochen ein paar böse Jungs mit Gewehren versucht haben, deinen Bruder umzubringen? Hilft es dir irgendwie, wenn du das weißt?“
„Ja, das tut es! Denn es tut mir weh, wenn ich es nicht erfahre. Du musst mich nicht vor der Wirklichkeit schützen“, gab Colleen erbittert zurück. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr!“
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