Brockmann Suzanne
noch, als sei es gestern gewesen. Ich musste unsere Nachbarn anbetteln, einen Teil unserer Möbel für uns aufzubewahren – also den Teil, der nicht schon gestohlen oder beschädigt war. Ich musste mich entscheiden, welche Kleidungsstücke wir mitnehmen konnten und was wir zurücklassen mussten. Meine Bücher, meine Spielzeuge oder Stofftiere konnte ich nicht mitnehmen. Und niemand hatte Platz, einen Karton mit meinem wertlosen Zeug unterzustellen. Daher habe ich alles in eine Seitenstraße gestellt und gehofft, dass es noch da sein würde, wenn ich eine neue Wohnung für uns gefunden hätte.“ Sie sah ihn kurz an. „In dieser Nacht hat es geregnet; ich bin erst gar nicht mehr zurückgegangen. Ich wusste ohnehin, dass meine Sachen ruiniert sein würden. Außerdem dachte ich mir wohl, dass ich in Zukunft ohnehin nicht mehr viel Verwendung für Spielzeug haben würde.“
Sie holte tief Luft. „Jedenfalls habe ich an diesem Tag alles in Plastiktüten gepackt, was ich tragen konnte, und mich auf die Suche nach meiner Mutter gemacht. Ich musste sie unbedingt finden, damit ich abends ein Bett in einer Obdachlosenunterkunft bekommen konnte. Wenn ich dort alleine aufgetaucht wäre, hätten sie mich dem Jugendamt übergeben. Und egal, wie schlimm es bei Cheri war – das habe ich mir noch viel schlimmer ausgemalt.“
Harvard fluchte leise.
„Versteh mich bitte nicht falsch! Ich erzähle dir das alles nicht, um dich zu deprimieren.“ Sie blickte ihn ernst an und hoffte, er würde das begreifen. „Ich versuche dir nur klarzumachen, wie viel Glück du hattest. Und hast . Deine Vergangenheit ist eine feste Basis. Du solltest sie feiern und dich auf sie stützen.“
„Deine Mutter …“
„War drogensüchtig, seit ich denken kann“, erwiderte P. J. nüchtern. „Nach meinem Vater brauchst du gar nicht fragen. Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter wusste, wer er war. Cheri war vierzehn, als sie mich bekam. Ihre eigene Mutter war sechzehn, als Cheri geboren wurde. Ich habe mir das schon sehr früh ausgerechnet und festgestellt, dass ich mit zwölf ein Baby haben würde, wenn ich mich entscheiden sollte, der Familientradition zu folgen. Das also ist die Kindheit, die hinter mir liegt. Ich bin entkommen, aber nur knapp.“ Sie hob ihr Kinn an. „Aber es gibt etwas, das Cheri mir trotz allem mitgegeben hat: einen sehr ausgeprägten Realitätssinn. Ich bin nur da, wo ich heute bin, weil ich mich entschieden habe, dass so ein Leben für mich nicht infrage kommt. Auf gewisse Weise muss ich meiner Vergangenheit also auch dankbar sein. Allerdings sind die Erinnerungen daran nicht ganz so erfreulich wie deine.“
„Verdammt“, sagte Harvard. „Im Vergleich zu dir bin ich im Paradies aufgewachsen. Jetzt fühle ich mich tatsächlich wie ein schmollendes Kind.“
P. J. sah über den Ozean bis zum Horizont. Sie liebte seine vermeintliche Unendlichkeit.
„Ich fange an, dich als Freund zu betrachten“, sagte sie zu Harvard. Sie drehte sich zur Seite und sah ihn direkt an. „Aber ich muss dich warnen: Ich glaube nicht an Freundschaften aus Schuldgefühl oder Mitleid. Du darfst nichts von dem, was ich dir gerade gesagt habe, dazu benutzen, deine eigenen Probleme herunterzuspielen. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen. Und man sollte seines nicht neben das eines anderen stellen und vergleichen. Ich wollte dir schließlich mit all dem nicht sagen, ‚Hey, mein Problem ist viel größer und verrückter, also zählt deines nicht.‘“ Dabei lächelte sie ihn an. „Es ist nun einmal so, Senior Chief, dass ich eine alte Kühlbox mit mir herumtrage, die sehr gründlich gepackt ist. Solange man sie nicht umwirft, geht es mir gut. Du dagegen hast eine elegante Holzkiste. Der Umzug deiner Eltern hat das Schloss geknackt, und nun musst du alles wieder aufräumen, bevor du sie wieder verschließen kannst.“
Harvard nickte ihr lächelnd zu. „Das ist eine sehr poetische Art und Weise, mir zu sagen, dass ich diesen Vergleich niemals gewinnen könnte.“
„Das stimmt vielleicht. Aber was ich dir eigentlich sagen will, ist, dass es vollkommen normal ist, dass du über den Umzug deiner Eltern traurig bist“, erwiderte P. J. „Es ist doch klar, dass du das Haus vermissen wirst, das dreißig Jahre lang dein Zuhause war. Vergiss bloß nicht, dass du auch Grund hast, glücklich zu sein: Du hattest in all den Jahren ein Zuhause und Menschen, die es dazu gemacht haben. Du hast Erinnerungen, gute Erinnerungen. Der Gedanke an deine
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