Broken (German Edition)
in ihm vorging. Ich vermisste meinen Bruder. Ihn in den Arm zu nehmen, war für mich das Selbstverständlichste von der Welt gewesen. Es hatte mich nie Überwindung gekostet. Wieso also fiel mir das bei allen anderen in meinem Leben so schwer? Wieso schaffte ich es jetzt nicht bei meiner zerbrechlichen, gequälten Cousine? Ich gab meiner Mutter die Schuld. Und ich gab dem Alkohol die Schuld und der Tatsache, dass die Sucht einen verändert. Süchtige sind von Natur aus Saboteure.
«Miki, ehrlich, es … tut mir leid. Ich hab’s nicht kapiert. Ich hab nicht kapiert, wie real die Sache ist.»
«Ich verstehe. Ich bin ja auch nicht gerade der stabilste Mensch in deinem Leben.»
«Weißt du noch, wann du das erste Mal Geräusche in deinem Haus gehört hast?»
«Wie meinst du das?»
«War das zu der Zeit, als du öfter den Polizeinotruf gewählt hast?»
Ihre Miene verhärtete sich. «Dann gucken sich die Cops also meine Akten an?»
«Sie wissen von deinen Anrufen, Miki, klar. So was wird gespeichert. Etwa zu der Zeit hast du dir die Pulsadern aufgeschnitten, nicht wahr?»
«Das war, bevor ich Cash kennengelernt habe. Damals hab ich das Schlafzimmer nach oben verlegt. Ich hatte Angst, es wäre jemand am Fenster. Ich hab alle Bäume zurückschneiden lassen, damit die Äste nicht das Haus berühren. Ich hab trotzdem Geräusche gehört. Schließlich hab ich’s nicht mehr ausgehalten. Alle haben gesagt, da wäre nichts. Da wäre niemand in meinem Haus. Niemand im Garten. Nimm deine Medikamente, nimm deine Medikamente, nimm deine Medikamente. Das war alles, was ich zu hören kriegte. So wollte ich nicht mehr weiterleben.»
«Was ist dann passiert?»
«Ein weiterer unnützer Monat meines Lebens im Krankenhaus. Was für eine Scheißverschwendung. Die haben mir ein paar einfache Fotoreportagen gegeben, bis sie wussten, dass bei mir alles wieder im grünen Bereich war. Dabei hab ich Cash kennengelernt. Von da an war Cash mit im Haus, wenn ich nicht auf Reisen war. Nach ihm gab es Jake, Greg, Ben. Du verstehst.»
Ich tätschelte ihr die Hand, stand auf. «Schlaf dich aus, ja? Wir reden morgen weiter.»
Miki nahm sich ein Glas Wasser, und ich sah ihr nach, wie sie die Treppe hochging. Sie wirkte heute Abend besonders schwach auf mich. Ich ging auf die Veranda hinterm Haus, wo meine Eltern nebeneinandersaßen und sich leise unterhielten – ein Schlummertrunk unter den Sternen.
«Komm, setz dich zu uns», sagte mein Dad. «Es ist eine klare Nacht.»
«Du warst heute Abend sehr mutig, Keye», sagte Mutter – ein großzügiges Lob von Emily Street. «Ich hab mich richtig sicher gefühlt.»
Ich zog mir einen Verandastuhl zu ihnen ran, und wir schwiegen eine Weile. «Ich möchte euch was fragen. Es geht um meine Adoption», sagte ich, und Mom wäre fast ihr Spezialgrog aus der Hand gefallen.
«Wie kommst du denn plötzlich darauf, Keye?», entfuhr es ihr.
«Wieso regst du dich so auf?»
«Wir haben dir alles erzählt, was wir über deine Eltern und deine Großeltern wissen», sagte sie.
«Warum sprichst du so ungern darüber, Mutter?»
«Schätzchen, du weißt, wir wollten Kinder», sagte mein Dad.
«Aber warum habt ihr mich ausgewählt?»
«Ich hab mich auf den ersten Blick in dich verliebt», antwortete mein Vater.
«Ich hab euch mal streiten gehört, als ich klein war», sagte ich. Ich sah Mutter an. «Du hast gesagt, das Leben mit einem weißen Kind, einem Kind, das nicht beschädigt ist, wäre besser gewesen.»
«Es wäre leichter gewesen», gab meine Mutter zu. «Aber nicht besser. Du warst ein gebrochenes kleines Mädchen, Keye. An manchen Tagen warst du so zugewandt und lieb, und an manchen Tagen wusste ich nicht, wie ich an dich rankommen sollte. Und dann die Leute. Das ganze Getratsche! Die Gegend hier war zu der Zeit schneeweiß. Aber jeder, der dich kennenlernte, hat sofort seine dummen Vorurteile vergessen und dich genauso ins Herz geschlossen wie wir.»
«Ich hab an dem Tag gehört, wie du gesagt hast, es wäre Dads Schuld.»
Mutter nahm die Hand meines Vaters. «Manchmal muss ich Howard einfach anschreien. Das bedeutet meist nur, dass mir alles zu viel ist.»
«Ich erinnere mich an das Kinderheim. Und ich erinnere mich, wie ich euch das erste Mal gesehen hab.»
«Du warst so wunderhübsch», sagte mein Dad zu mir.
«Die weißen Kinder haben alle Eltern gefunden», sagte Mutter. «Wir wollten ein Kind, das uns genauso brauchte, wie wir dich brauchten. Es hätte nicht mal eine Rolle gespielt,
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