Brombeersommer: Roman (German Edition)
und konnte Deutsch. Sie wusste, wo die Gäste die beste Trattoria finden würden.
»Wenn Sie länger bleiben wollen«, sagte sie noch, »können Sie auch in unserem Rustico in der Nähe von Ronco, hoch über dem See wohnen. Wir sind nicht oft da oben, die meiste Zeit steht es leer. Es ist einfach, aber kochen kann man dort.«
»Was ist ein Rustico?«, flüsterte Viola Theo zu.
»Una piccola casa«, sagte die Frau, »ein kleines Haus aus Stein.«
Viola kniff Karl in den Arm, als müsse sie ihm und sich und Theo klarmachen, dass sie nicht träumten.
»Morgen«, sagte die Frau freundlich, »kann mein Mann sie hinführen. Wenn Sie sich das Häuschen mal ansehen möchten.«
Der Weg schlängelte sich den steilen Berghang hinauf. Unten lag der See in seinem tiefen Sommerblau, der einem nach jeder Kurve einen neuen Anblick bot. Viola saß neben dem Tessiner in einem dreirädrigen Lieferwägelchen, das bedenklich klapperte, Theo und Karl folgten im Käfer. Die Vegetation war ein wahrer Dschungel. Unter all dieSchattierungen von Grün mischten sich Blumenfarben von leuchtendem Orange und Karmesinrot bis zum überirdischen Blau der Glyzinien.
Viola hätte jubeln mögen, weil sie gar nicht wusste, wie sie mit der überwältigenden Fülle von Schönheit und Licht und Farben und mit dem Überschwang an Gefühlen fertigwerden sollte. Aber sie traute sich nicht vor dem Fremden, und so entfuhren ihr nur kleine, weiche Gluckser, die der Signore mit einem Lächeln quittierte. »E bello qui«, nickte er, »un paradiso, vero?« Viola hielt den Arm aus dem heruntergekurbelten Fenster in die weiche Luft da draußen. »Un paradiso. Vero.«
Da hatten sie Ronco erreicht. Der Mann, der Giovanni hieß, stellte den Motor ab und stieg aus. Viola folgte ihm benommen. Selbst im Paradies gab es noch besondere Aussichtspunkte. Von der Terrasse, auf der sich die Kirche von Ronco erhob, blickte man auf beide Seiten des Sees. Zur Linken lag Ascona in seiner Bucht, dahinter Locarno, die Magadino-Ebene, darüber stiegen die Alpen mit weißen Gipfeln auf. Unten im See schwammen grün und selig zwei Inseln. »Le Isole di Brissago«, erklärte Giovanni. Zur Rechten, soweit das Auge reichte, lag der See, eingebettet in das Panorama wechselvoller, dichtbewachsener Berghänge. Palmen, Bambus, großblättrige hellgrüne Bananenpflanzen, Feigenbäume, letzte, verblühende Azaleen in Weiß, Rosa und Rot breiteten sich unter ihnen aus. Edelkastanien wuchsen oben an den Hängen, ganze Wälder waren es, von wildem Lorbeer und Schlingpflanzen zusammengehalten.
Viola versuchte an zu Hause zu denken, aber die Heimatwar Welten entfernt, verblasst zu einem Bild in stumpfen Grautönen angesichts dieser Explosion von Farben.
Theo und Karl waren zu ihnen getreten. Theo fragte Giovanni nach dem Namen der Orte und Berge, und der zeigte hierhin und dorthin, und Theo folgte ihm über den Kirchplatz, strahlend vor Glück, weil es ihm gelang, mehr italienische Worte zusammenzukramen, als er gedacht hatte.
Viola war stehen geblieben. Sie legte schützend die Hand vor die Augen, weil die Sonne sie blendete. Karl bemerkte es und setzte ihr seine Sonnenbrille auf die Nase. Da lehnte sich Viola sachte an ihn. Sie sagten nichts, aber ihre Hand suchte seine und hielt sie fest. »Nein«, sagte er und ließ ihre Hand doch nicht los.
»Ihr Schlafmützen«, rief Theo da, »kommt! Signore Giovanni führt uns zu Fuß zu dem Haus hinauf.«
Giovanni ging voraus durch die engen Gassen des zusammengekauerten Dorfes mit seinen pittoresken Steinhäusern, seinen Loggien und Gärten und stieg auf einem schmalen Saumpfad weiter den Hang hinauf, hinein in die goldgrüne Dämmerung des Waldes. Nach etwa zehn Minuten blieb er auf einem natürlichen, terrassenartigen Vorsprung stehen. Ein Bach sprudelte neben ihnen den Berg hinunter, sammelte sich weiter unterhalb in einer Steinmulde wie in einem großen Wasserbecken und stürzte von dort aus in die Tiefe. Giovanni machte ein paar Schritte, und da stand, eingesponnen ins Grün der Märchenlandschaft, das Haus.
Zwischen den Steinplatten, die einen Vorplatz bildeten, wucherte blühendes Unkraut. Eine Außentreppe aus Granitführte halsbrecherisch geländerlos hinauf zum ersten Stock, vor dessen Fenstern ein weinumrankter Balkon zu schweben schien.
Sie standen und staunten, dass es so etwas gab.
Giovanni öffnete die alte Holztür. Sie knarrte und ächzte in den Angeln und gab den Blick frei auf eine Küche mit mannshohem steinernem Kamin.
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