Brook, Meljean - Die Eiserne See
Hof voller Männer und Frauen war. In dieser Häufung waren die Nachwirkungen der Besatzungszeit allzu deutlich zu sehen: So gut wie jeder Mann und jede Frau war von der Horde modifiziert worden. Beine waren zu Hebevorrichtungen oder fahrbaren Untersätzen umgebaut, Arme mit Stahl und Eisen verstärkt oder ganz ersetzt worden. Aber obwohl die Leute schrien, wirkten sie nicht wütend. Entschlossen eher – und alle schienen sie auf etwas zu warten, voller Erwartung.
Als Yasmeen wieder nach unten kletterte, stand Nasrin in ihrem Zimmer und war sichtlich amüsiert. »Wir bedauern, Sie so lange hier festgehalten zu haben, aber die Gespräche waren lang, und die Sitzungsteilnehmer sind eben erst gegangen.«
Die Gespräche mit den Franzosen? Doch Nasrin führte es nicht weiter aus. Sie brachte sie zu einer großen Säulenhalle, in der vielleicht einmal ein Thron gestanden hatte, die nun aber lediglich mit einem dicken Teppich ausgelegt war. Temür saß am Kopf, im Schneidersitz. Hassan saß zu seiner Rechten.
Temür bedeutete ihnen, sich zu seiner Linken hinzusetzen. Kleiner, als sie ihn sich immer vorgestellt hatte, mit klugen Augen und eisengrauem Haar, das auf seinem Scheitel zu einem dünnen Zopf gebunden war, machte er einen ruhigen und gelassenen Eindruck – ganz wie Nasrin nun, die ein Stück hinter ihm stand. Er hatte reinweg gar nichts von dem zähnefletschenden Irren aus Yasmeens Fantasie, der befohlen hatte, eine Stadt dem Erdboden gleichzumachen; genauso wenig hatte er etwas von dem großzügigen, leidenschaftlichen Mann, der eine andere Stadt wieder hatte aufbauen lassen. Er sah einfach aus wie ein Mann, der vor einem strategischen Brettspiel saß – und sie konnte nicht beurteilen, ob er am Gewinnen oder am Verlieren war.
»Unser Freund Hassan hat uns von Ihrer Reise erzählt und von allem, dessen Sie Kareem al-Amazigh verdächtigen.«
Archimedes nickte, sichtlich erleichtert von dem »unser Freund«. »Ja.«
»Er befindet sich zurzeit an Bord eines der französischen Schiffe, die uns belagern. Sie verlangen Zutritt für ihre Soldaten sowie die Erlaubnis, dass al-Amazigh den Turm zerstört.«
Er hätte auf Hassan hören sollen, dachte Yasmeen. Eine solche Handlung hätte ihn zum Helden gemacht, doch würde er die Stadt an eine ausländische Macht verlieren.
Al-Amazigh hingegen würde nicht lange ein Held sein. Yasmeen stellte sich die Reihe Schiffe vor. Sie würde herausfinden müssen, auf welchem er sich befand, und dann die Ceres dicht genug heransetzen, dass sie dort eindringen konnte …
Nein. So würde es nicht gehen, es sei denn, sie würde das Schiff allein lenken. Dafür durfte sie das Leben der Crew nicht aufs Spiel setzen. Und Archimedes’ Leben auch nicht – wobei sie keine Ahnung hatte, wie sie ihn darin hindern konnte, es selbst zu riskieren.
»Sie ist schon dabei, zu entscheiden, wie sie Kareem al-Amazigh töten wird«, sagte Nasrin. »Du redest besser schneller, Liebster.«
Yasmeen sah den Mann an. »Dann wollen Sie nicht, dass ich es tue?«
»Ein Mordanschlag auf einem der französischen Schiffe käme dem ersten Schuss gleich. Meine Kriegsmaschinen werden die Flotte zerstören, aber das würde auch viele der Handelsverträge zunichtemachen, die wir mit ihren Verbündeten in der Neuen Welt abgeschlossen haben. Ich möchte meine Stadt nicht in einen Krieg verwickeln.«
Und eine Bitte von Temür Agha war ein Befehl. Yasmeen war nicht so dumm, sie ihm abzuschlagen. »Und sobald er nicht mehr an Bord des Schiffes ist?«
Die Lachfalten an seinen Augen traten hervor. »Können Sie tun, was Ihnen beliebt.«
»Was denken Sie, wie lange die Belagerung dauern wird?«
»Nicht lange. Sie werden keinen Grund haben zu bleiben, und ihre Forderungen werden demnächst bedeutungslos. Ich bringe den Turm heute Nacht zum Einsturz. Beziehungsweise« – er warf einen Blick zu Hassan – »mein Freund wird es tun, sobald er an meine Stelle getreten ist.«
Es verschlug ihnen beiden die Sprache. Tränen glitzerten in Hassans Augen, Traurigkeit – die Bürde der Verantwortung.
Er war der Richtige dafür, sie zu tragen, fand Yasmeen.
Archimedes schüttelte den Kopf. »Im Ernst?«
»Ja«, sagte Hassan. »Wir treten demnächst hinaus auf den Hof, um es zu verkünden. Ich wollte eine Einladung an euch aussprechen, dabei zuzuschauen.«
Yasmeen nickte, dann sah sie kurz zu Nasrin. »Und Sie? Was werden Sie anschließend machen?«
»Wir werden irgendwoandershin gehen. Wohin, haben wir noch nicht
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