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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Kommentare anzubringen. Sie fragte sich, wie lange das noch so weitergehen würde, und versuchte, ihnen zu verstehen zu geben, wie wenig sie ihr Interesse schätzte, indem sie ein mattes Lächeln aufsetzte, wenn sie mit ihr sprachen, oder ein paarmal, besonders am Morgen, indem sie sie ausdruckslos ansah, als würde sie kein einziges Wort verstehen.
    Nachdem sie gefrühstückt und Tasse samt Untertasse und Teller gespült hatte, schlüpfte Eilis, ohne Patty, die gerade in die Küche gekommen war, zu beachten, leise aus dem Haus und machte sich, da sie noch reichlich Zeit hatte, in aller Ruhe auf den Weg zur Arbeit. Das war ihre dritte Woche, und obwohl sie etliche Male an ihre Mutter und Rose und einmal an ihre Brüder in Birminghamgeschrieben hatte, waren noch immer keine Briefe gekommen. Als sie die Straße überquerte, kam ihr der Gedanke, dass sich, wenn sie um halb sieben heimkäme, eine ganze Welt von Dingen ereignet haben würde, von denen sie ihnen erzählen konnte; jeder Moment schien irgendeinen neuen Anblick oder eine neue Empfindung oder Information mit sich zu bringen. Bei der Arbeit hatte sie sich bislang keinen Augenblick gelangweilt, die Stunden vergingen fast wie im Fluge.
    Erst später, wenn sie wieder zu Haus war und nach dem Abendessen in ihrem Bett lag, würde ihr der Tag, den sie gerade verlebt hatte, als einer der längsten ihres Lebens vorkommen, wenn sie ihn Szene für Szene noch einmal Revue passieren ließ. Selbst winzige Details blieben ihr präsent. Wenn sie bewusst versuchte, an etwas anderes oder auch an gar nichts zu denken, fielen ihr Ereignisse des Tages rasch wieder ein. Für jeden Tag, dachte sie, brauchte sie eigentlich einen vollen weiteren Tag, um alles, was geschehen war, zu überdenken und zu speichern und sich davon zu befreien, damit es sie nicht nachts wach hielt oder ihre Träume mit Momentaufnahmen dessen erfüllte, was sie wirklich erlebt hatte, und anderen, die nichts Vertrautes enthielten, sondern nur plötzliche Farbschwalle oder wimmelnde Menschenmengen, alles hektisch und schnell.
    Sie mochte die Morgenluft und die Stille dieser wenigen baumgesäumten Straßen, Straßen, auf denen es nur an den Ecken Läden gab, Straßen, wo Menschen lebten, in denen es in jedem Haus drei bis vier Wohnungen gab und wo sie auf dem Weg zur Arbeit an Frauen vorbeikam, die ihre Kinder zur Schule brachten. Aber während sie so dahinging, wusste sie, dass sie sich der realen Welt näherte, in der die Straßen breiter und verkehrsreicher waren. Hatte sie erst die Atlantic Avenue erreicht, erschien ihr Brooklyn wie ein fremder Ort, mit den vielen Baulücken und den vielen heruntergekommenen Gebäuden. Und dann plötzlich, wenn sie zur Fulton Street kam, wimmelte es von so vielen Menschen, diedie Straße überqueren wollten, dass sie am ersten Morgen gedacht hatte, es sei eine Schlägerei ausgebrochen oder jemand sei verletzt und die Menge hätte sich da versammelt, um zu gaffen. Meistens wartete sie ein, zwei Minuten lang, bis die Menge sich verlaufen hatte.
    Bei Bartocci’s musste sie ihre Karte in die Stechuhr stecken, was einfach war, und dann zu ihrem Spind im Frauenumkleideraum im Parterre gehen und die blaue Uniform anziehen, die alle Verkäuferinnen tragen mussten. Oft war sie vor den meisten anderen Mädchen da. Manche von ihnen trafen erst in allerletzter Sekunde ein. Eilis wusste, dass Miss Fortini, die Geschäftsführerin, dies missbilligte. An ihrem ersten Tag hatte Father Flood sie ins Hauptbüro begleitet, wo sie ein Vorstellungsgespräch mit Elisabetta Bartocci geführt hatte, der Tochter des Eigentümers, die ihr als die eleganteste Frau erschien, die sie je gesehen hatte. Sie beschrieb ihrer Mutter und Rose Miss Bartoccis feuerrotes Kostüm und ihre schlichte weiße Bluse, ihre roten hochhackigen Schuhe, ihr Haar, das glänzend schwarz und perfekt frisiert war. Ihr Lippenstift war leuchtend rot, und ihre Augen waren die schwärzesten, die Eilis je gesehen hatte.
    »Brooklyn ändert sich täglich«, sagte Miss Bartocci, und Father Flood nickte. »Neue Menschen kommen, und sie können Juden oder Iren oder Polen oder sogar Farbige sein. Unsere alten Kundinnen ziehen hinaus nach Long Island, und wir können ihnen nicht folgen, daher brauchen wir jede Woche neue Kundinnen. Wir behandeln alle gleich. Uns ist jeder einzelne Mensch, der in dieses Kaufhaus kommt, willkommen. Sie alle geben Geld aus. Wir halten unsere Preise auf niedrigem und unsere Umgangsformen auf höchstem

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