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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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dafür sorgen, dass niemand außer ihr den Brief zu sehen bekam.
    Eilis lächelte in sich hinein bei dem Gedanken, dass sie von nichts anderem zu berichten hatte als von ihrem ersten Tanzabend; und sie hatte keine Scheu gehabt, ihrer Mutter davon zu schreiben, beiläufig und in scherzhaftem Ton. Es gab nichts Privates, worüber sie Rose hätte berichten können.
    Als sie sich in dem Laden umsah, begriff sie, dass es aussichtslos war, die drei Bücher auf ihrer Liste inmitten all der anderen Bücher finden zu wollen; als ein alter Mann sie ansprach, der hinter dem Tresen hervorgekommen war, reichte sie ihm daher einfach die Liste und sagte, das seien die Bücher, die sie suche. Der Mann musste sich die dicke Brille, die er trug, in die Stirn schieben, um lesen zu können. Er kniff die Augen zusammen.
    »Ist das Ihre Handschrift?«
    »Nein, die meines Dozenten. Er hat mir diese Bücher empfohlen.«
    »Studieren Sie Jura?«
    »Nicht direkt. Aber es ist Teil meines Kurses.«
    »Wie heißt Ihr Dozent?«
    »Mr. Rosenblum.«
    »Joshua Rosenblum?«
    »Seinen Vornamen kenne ich nicht.«
    »Was studieren Sie denn?«
    »Ich besuche einen Abendkurs am Brooklyn College.«
    »Dann ist es Joshua Rosenblum. Ich kenn doch seine Handschrift.«
    Er spähte wieder auf das Blatt und die Titel.
    »Er ist gescheit«, sagte der Mann.
    »Ja, er ist sehr gut«, erwiderte sie.
    »Können Sie sich vorstellen –« fing der Mann an, wandte sich dann aber zur Kasse, ohne auszureden. Er war erregt. Sie folgte ihm langsam.
    »Sie wollen also diese Bücher?« Sein Ton war fast aggressiv.
    »Ja.«
    »Joshua Rosenblum?« fragte der Mann. »Können Sie sich ein Land vorstellen, das ihn töten möchte?«
    Eilis trat einen Schritt zurück, ohne eine Antwort zu geben.
    »Und, können Sie?«
    »Was meinen Sie damit?« fragte sie.
    »Die Deutschen haben alle seine Angehörigen getötet, jeden einzelnen von ihnen ermordet, aber wir haben ihn herausgeholt, wenigstens das haben wir geschafft, wir haben Joshua Rosenblum herausgeholt.«
    »Sie meinen, im Krieg?«
    Der Mann gab keine Antwort. Er ging quer durch den Laden und nahm einen kleinen Hocker, auf den er dann stieg, um an ein Buch heranzukommen. Er stieg wieder hinunter und wandte sich ihr zornig zu. »Können Sie sich ein Land vorstellen, das so was tun würde? Es sollte vom Angesicht der Erde getilgt werden.«
    Er sah sie verbittert an.
    »Im Krieg?« fragte sie noch einmal.
    »Im Holocaust, im churban .«
    »Aber war das im Krieg?«
    »Ja, ja, es war im Krieg«, erwiderte der Mann, plötzlich mit einem sanften Ausdruck im Gesicht.
    Während er die zwei anderen Bücher suchte, hatte er eine resignierte, fast störrische Miene; und als er zur Theke zurückkehrte und ihr die Rechnung ausstellte, wirkte er distanziert und unnahbar. Sie gab ihm das Geld, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Er packte die Bücher für sie ein und gab ihr das Wechselgeld. Sie spürte, dass er wollte, dass sie das Geschäft verließ, und dass sie ihm auf keine Weise noch ein weiteres Wort entlockt hätte.

    Sie genoss es, die juristischen Bücher auszupacken und sie auf den Tisch neben die Schreibhefte und ihre Bücher über Buchführung und Rechnungswesen zu stellen. Als sie das erste davon öffnete und hineinsah, fand sie es auf Anhieb schwierig und bedauerte es, nicht auch noch gleich ein Wörterbuch gekauft zu haben, um die schwierigen Wörter nachschlagen zu können. Sie las, bis es Essenszeit war, die Einleitung und wusste auch am Ende nicht, was die gleich am Anfang erwähnte »Jurisprudenz« sein sollte.
    Als sie während des Abendessens merkte, dass sowohl Miss McAdam als auch Sheila Heffernan nicht mehr mit ihr redeten, überlegte sich Eilis, ob sie Patty und Diana fragen sollte, ob sie am nächsten Abend mit ihnen zum Tanz gehen oder sich vorher irgendwo mit ihnen treffen könnte. Eigentlich wäre sie am liebsten gar nicht hingegangen, aber sie wusste, dass Father Flood ihr Fehlen bemerken und, da es die zweite Woche wäre, in der sie nicht kam, nach ihr fragen würde. An dem Abend war noch ein anderes Mädchen beim Essen dabei, eine Dolores Grace, die Eilis’ altes Zimmer übernommen hatte. Sie hatte rotes Haar und Sommersprossen und kam, wie sich herausstellte, aus Cavan, aber die meiste Zeit über schwieg sie, und es schien sie befangen zu machen,mit ihnen am Tisch zu sitzen. Eilis erfuhr, dass dies ihr dritter Abend in ihrem Kreis war, aber da sie wegen ihrer Vorlesungen an den zwei letzten Mahlzeiten nicht

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