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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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saßen.
    »Sie haben nicht gefragt.«
    »Ich habe Ihnen nichts weiter zu erzählen.« Scheinbar bedrückt zuckte er die Achseln.
    »Keine Geheimnisse?«
    »Ich könnte mir ein paar ausdenken, aber sie würden nicht echt klingen.«
    »Mrs. Kehoe glaubt, Sie wären Ire. Sie könnten meinetwegen in Tipperary geboren sein und den ganzen Rest erfunden haben. Wie kommt’s, dass ich Sie auf einem irischen Tanzabend kennengelernt habe?«
    »Okay. Ich habe tatsächlich ein Geheimnis.«
    »Ich wusste es. Sie kommen aus Bray.«
    »Was? Wo ist das?«
    »Was ist Ihr Geheimnis?«
    »Sie wollen wissen, warum ich zu einem irischen Tanzabend gegangen bin?«
    »In Ordnung. Dann frage ich Sie: Warum sind Sie zu einem irischen Tanzabend gegangen?«
    »Weil ich irische Mädchen mag.«
    »Egal, welches?«
    »Nein, ich mag Sie.«
    »Ja, aber wenn ich nicht da wäre? Würden Sie sich einfach eine andere aussuchen?«
    »Nein, wenn Sie nicht da wären, würde ich ganz traurig nach Hause gehen und den Kopf hängen lassen.«
    Da erzählte sie ihm, dass sie Heimweh gehabt hatte und Father Flood sie bei einem Kurs angemeldet hatte, damit sie beschäftigt wäre, und dass es sie glücklich machte, abends zu lernen, zumindest so glücklich, wie sie, seit sie Irland verlassen hatte, nicht mehr gewesen war.
    »Sind Sie denn nicht glücklich, wenn Sie mit mir zusammen sind?« Er sah sie ernsthaft an.
    »Doch, schon«, erwiderte sie.
    Bevor er ihr weitere Fragen stellen konnte, auf die sie möglicherweise hätte antworten müssen, dass sie ihn nicht gut genug kannte, um weitere Aussagen über ihn machen zu können, erzählte sie ihm von ihrem Kurs, von den anderen Studenten, von Buchhaltung und Kontoführung und vom Juradozenten Mr. Rosenblum. Er runzelte die Stirn und wirkte besorgt, als sie ihm schilderte, wie schwierig und kompliziert die Vorlesungen waren. Als sie ihm dann berichtete, was der Buchhändler damals gesagt hatte, als sie nach Manhattan gefahren war, um juristische Bücher zu kaufen, verstummte er vollends. Als ihr Kaffee kam, sagte er immer noch nichts, sondern rührte nur den Zucker um und nickte dazu traurig. Sie hatte ihn noch nie so erlebt und ertappte sich dabei, dass sie sein Gesicht in diesem Licht musterte, und sie fragte sich, wie lang es wohl dauerte, bis er wieder so wäre wie sonst und wieder zu lächeln und zu lachen anfangen würde. Doch auch als er den Kellner nach der Rechnung fragte, blieb er ernst, und er sagte nichts, als sie das Lokal verließen.
    Später, als die Tanzmusik langsam wurde und sie eng aneinandergeschmiegt tanzten, schaute sie nach oben und fing seinen Blick auf. Seine Miene war immer noch so ernst, wodurch er weniger albern und jungenhaft aussah. Selbst wenn er ihr zulächelte, wirkte es nicht so, als mache er Spaß oder als amüsiere er sich. Es war ein warmes, aufrichtiges Lächeln, und es schien ihr, dass er innerlich gefestigt war, reif beinahe, und dass, was auch immerjetzt passierte, er es ernst meinte. Sie erwiderte sein Lächeln, senkte aber dann die Augen. Sie hatte Angst.
    An diesem Abend verabredete er mit ihr, sie am folgenden Donnerstag vom College abzuholen und nach Hause zu begleiten. Mehr nicht, versprach er. Er wollte sie, sagte er, nicht von ihrem Studium ablenken. In der folgenden Woche lud er sie für den Samstag ins Kino ein, und sie akzeptierte, weil alle ihre Mitbewohnerinnen, mit Ausnahme von Dolores, und einige ihrer Kolleginnen vorhatten, in Singin’ in the Rain zu gehen, das gerade in die Kinos kam. Selbst Mrs. Kehoe beabsichtigte, sich den Film zusammen mit zwei Freundinnen anzuschauen, und so wurde am Küchentisch lebhaft darüber diskutiert.
    Bald bildeten sich feste Gewohnheiten heraus. Jeden Donnerstag stand Tony draußen vor dem College oder, wenn es regnete, im Gebäude, diskret in einer Ecke, und er begleitete sie zur Straßenbahn und dann zu Fuß nach Haus. Er war stets vergnügt und hatte immer etwas über die Leute zu erzählen, für die er seit ihrer letzten Begegnung gearbeitet hatte, und über den je nach Alter und Herkunftsland jeweils unterschiedlichen Ton, in dem sie die Probleme mit ihren sanitären Anlagen schilderten. Manche von ihnen, sagte er, waren so dankbar, dass sie ihm ein großzügiges, oft auch zu hohes Trinkgeld gaben; andere, auch solche, die ihre Abwasserrohre selbst mit Müll verstopft hatten, beschwerten sich über die Höhe der Rechnung. Alle Hausverwalter in Brooklyn, sagte er, waren geizig, und wenn italienische Hausverwalter mitbekamen,

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