Brown, Dale - Feuerflug
interessante Mischung aus Stärke und Zurückhaltung, Macht und Vorsicht. Wer war dieser Anführer? Offensichtlich ein Mann, dem die Sicherheit seiner Leute wichtig war, aber auch jemand, der nicht davor zurückschreckte, seine Befehlsgewalt zu gebrauchen. Und seine Männer waren offenbar hervorragend ausgebildet und motiviert, aber andererseits keine Berserker.
Der Anführer trug den Decknamen »Castor« – nach einem Zwillingspaar aus der römischen Mythologie. Die Zwillingsgötter Castor und Pollux, die Dioskuren, waren die »kosmischen Stabilisatoren«, die Licht und Dunkelheit verkörperten. Der eine war ein Mann des Friedens, ein Pferdeabrichter; der andere ein Faustkämpfer, ein Krieger. Beide beschützten Sterbliche. Als der Krieger Pollux den Tod fand, traf Castor, der Mann des Friedens, eine Vereinbarung mit den Göttern: Wenn seine Gefährten einen Krieger brauchten, würde er sterben, damit sein Bruder weiterleben konnte. Susan stellte sich die auf der Hand liegende Frage: Wo und wer war Pollux?
Oder vielleicht gab es keinen Pollux mehr, und Castor, der Mann des Friedens, war ihr Anführer. Vielleicht hatten die Männer die Fregatte deshalb nicht gewaltsam erobert, ihre Besatzung ermordet und das Schiff entführt. Ließ dieser Castor sich vielleicht dazu überreden, der Krieger Pollux zu werden, um Sterbliche zu beschützen ... oder vielleicht eine ganz bestimmte Sterbliche?
»Ich kehre zur Beisetzung nach Kairo zurück, General«, sagte Susan. »Aber vorher fliegen wir nach Marsá Matrũh, um diese Kommandos kennen zu lernen. Die Marine soll nicht versuchen, das Schiff zurückzuerobern, aber es auch nicht wieder auslaufen lassen.«
»Sie wollen zusehen, wie eines unserer Kriegsschiffe, das Terroristen gekapert haben, dicht vor unserer Küste liegt, ohne etwas dagegen zu unternehmen?«
»Sie haben es gekapert, sie verdienen es, an Bord bleiben zu dürfen«, entschied Susan. »Sie sollen alles bekommen: Essen, ärztliche Versorgung, Frauen – alles, was sie wünschen oder benötigen.« Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Nein, bitten Sie sie zu bleiben, bis ich eintreffe.«
»Wozu wollen Sie mit diesen Kerlen zusammentreffen, Sechmet?«, fragte Baris. »Sie könnten gefährlich sein.«
Susan schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Tatsächlich könnten sie genau die Leute sein, die wir brauchen, um uns zurückzuholen, was al-Khan und Zuwayy uns weggenommen haben.«
Ihre Entscheidung war die schwierigste gewesen, die sie in ihrem jungen Leben hatte treffen müssen: ihren Mann zu verlassen, um ihr eigenes Leben zu retten. Jetzt, wenige Minuten vor der Landung auf dem weitläufigen Militärstützpunkt Marsá Matrũh im Nordwesten des Landes, hatte Susan Bailey Salaam erstmals Zeit, sich Rechenschaft über die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Tages abzulegen:
Nach dem Attentat war sie von einem der bei solchen Anlässen bereitstehenden Sanitätsfahrzeuge aus der Al-AsharMoschee weggebracht worden. Der Fahrer hatte versucht, zum Präsidentenpalast zu fahren, aber die Straßen waren von Demonstranten und Randalierern verstopft gewesen, die gehört hatten, der Präsident und Susan seien bei dem Bombenanschlag ums Leben gekommen, und sie hatten umdrehen müssen. Susan musste mehrmals das Fahrzeug wechseln und hatte sich einmal mit Kevlarweste und Stahlhelm tarnen müssen, als es so aussah, als kämen Demonstranten ihrem Wagen gefährlich nahe. Nach langer Irrfahrt war sie schließlich zum Luftwaffenstützpunkt Zahir im Nordosten Kairos gebracht und mit einem Armeehubschrauber ausgeflogen worden. Der Pilot gab als Ziel die ägyptische Marineakademie in Alexandria an, aber sobald der Hubschrauber über dem Mittelmeer war, ging er außer Sichtweite der Küste tief hinunter und flog dicht über dem Wasser nach Westen weiter.
Ganz ohne Zweifel eine Flucht, sagte sie sich bedrückt, als der Hubschrauber seinen Landeanflug begann – um ihr eigenes Leben zu retten. Sie hasste die Vorstellung, aus ihrem eigenen Haus, vor ihrem eigenen Volk fliehen zu müssen. Sie hätte es lieber mit ihren Feinden aufgenommen, sich zum Kampf gestellt, um ihre Ehre und Legitimität und die ihres Gatten zu verteidigen. Aber er lebte nicht mehr. Und sie hatte sich verkleiden müssen, um aus der Hauptstadt fliehen zu können – sie konnte nicht darauf vertrauen, dass die Einwohnerschaft Kairos sie in ihrer Trauer vor den Folgen eines so katastrophalen, monströsen, unvorstellbaren Ereignisses
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