Brown, Dale - Patrick McLanahan - 09 - Mann gegen Mann
Die Person, das Wesen und die Energie, die alle seine Vergangenheiten und alle seine Zukünfte umfassten, waren dort augenblicklich verfügbar, um betrachtet und studiert und erfahren zu werden. Und er hatte sich weitere Realitäten erschaffen – zum Beispiel diese, in der er zu Anfang des 21. Jahrhunderts der Präsident der Vereinigten Staaten auf dem Planeten Erde war. Es wurde Zeit, diese Rolle zu spielen, sich in dieses Universum zu integrieren und sein Amt nach besten Kräften auszufüllen. Aber das konnte er mit dem Wissen und der Erfahrung tun, die er anderen Realitäten verdankte, denn für ihn waren sie alle seine Realitäten – alle wichtig, alle miteinander verknüpft.
Thorn nahm den Telefonhörer ab und drückte eine Taste. »Ja, Mr. President?«, meldete sich sein Vizepräsident Les Busick.
»Ihr Freund, von dem Sie neulich gesprochen haben? Ist er im Augenblick in Washington?«
»Ja.«
»Ich möchte mit ihm reden. Heute. Möglichst sofort.«
Busick zögerte einen Augenblick. Seit er erfahren hatte, dass sein »Freund« mit einem radikalen, gefährlichen Vorschlag nach Washington kommen würde, war er der Meinung gewesen, der Präsident sollte mit ihm sprechen. Aber obwohl er mehrere Anläufe genommen hatte, hatte Thorn davon nichts hören wollen. Busick war versucht, mit einem »Ich hab’s Ihnen gleich gesagt!« zu reagieren, aber er wusste, dass die Lage ziemlich kritisch sein Wusste, wenn der Präsident plötzlich das Gespräch mit seinem »Freund« suchte. »Wo?«
»In der Residenz.« Jeder Ort im Weißen Haus – praktisch im gesamten Distrikt – stand unter ständiger Beobachtung, nur der Wohntrakt des Präsidenten nicht. Und wie viele von Thorns Amtsvorgängern bald herausgefunden hatten, gab es mehrere Möglichkeiten, jemanden diskret in die Residenz des Präsidenten zu schleusen, ohne dass halb Washington davon erfuhr. »Möglichst bald.«
»Soll ich auch kommen?«
»Vielleicht lieber nicht.«
»Oh, ich verstehe.« Im Klartext besagte Thorns Antwort: Ich tue vielleicht etwas, das Sie dementieren müssten. Endlich handelt Thomas Thorn mal wie ein richtiger Präsident, sagte Busick sich. »Ich melde mich, wenn er da ist.«
»Hier ist alles so aufgeräumt und ordentlich«, sagte der Besucher lächelnd. »War ich wirklich ein so großer Schlamper?«
Präsident Thorn beobachtete seinen Besucher mit einer Mischung aus Besorgnis und Gereiztheit. Sie saßen im Arbeitszimmer des Präsidenten im Wohntrakt des Weißen Hauses, weit weg von den neugierigen Blicken der Medien, des Kongresses und – auch wenn Thorn sich das nicht gern eingestand – einiger Mitglieder seines Kabinetts. Aber jetzt musste er sich mit diesem Gentleman auseinander setzen. Irgendwie hatte er das unbehagliche Gefühl, sich auf einen Pakt mit dem Teufel einzulassen, was ihm heftig widerstrebte. »Kommen wir gleich zur Sache?«, schlug Präsident Thorn vor.
»Wie Sie meinen, Tom«, antwortete sein Amtsvorgänger Kevin Martindale, während er seinen lässigen kleinen Rundgang durchs Arbeitszimmer beendete und in dem angebotenen Sessel Platz nahm. Seit Martindale das Weiße Haus an Thomas Thorn verloren hatte, war er merklich abgemagert und trug sein Haar jetzt länger. Das begehrte Objekt aller Fotografen, die beiden charakteristischen silbernen Locken, die ihm in die Stirn fielen, wenn er zornig oder erregt war, waren noch vorhanden, aber jetzt war seine übrige Mähne fast ebenso silbern. Und er trug jetzt einen kurzen, teilweise grauen Bart.
»Sie haben sich einen anderen Look zugelegt, stimmt’s?«, fragte Thorn.
»Ich stehe nicht jeden Tag im Blickpunkt der Öffentlichkeit«, stellte Martindale fest. Er betrachtete den Präsidenten halb belustigt, halb vorwurfsvoll. »Sie allerdings auch nicht.«
»Vielleicht haben Sie schon immer so aussehen wollen«, meinte Thorn.
»Wir sind beide Kinder der sechziger Jahre, Tom«, sagte Martindale. »Wir haben gelernt, dass es in Ordnung ist, anders zu sein, zu tun, was unser Herz uns rät, statt auf die Ratschläge Wohlmeinender zu hören.«
»Das mag zutreffen.« Trotzdem war Kevin Martindales neuer Look verdammt ungewohnt, fand Thorn, und passte überhaupt nicht zu seinem Image. Martindale war Berufspolitiker, und seit er vor zwanzig Jahren die nationale politische Bühne betreten hatte, hatte er stets den Eindruck eines ausgebufften, gewieften, redegewandten, intelligenten Insiders gemacht und diese Rolle auch überzeugend gespielt. »Vor allem für einen ehemaligen
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