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Bruder Cadfaels Buße

Bruder Cadfaels Buße

Titel: Bruder Cadfaels Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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Gestalten wurden am Eingang zum Bergfried sichtbar: Burgkaplan und Benediktinermönch auf dem Weg zur Vesper. Ein interessanter Mann, dieser Cadfael aus dem Kloster von Shrewsbury. Kein geweihter Priester, sondern ein Laienbruder, der seine Mitgliedschaft im Orden in Frage stellte. Seines Mönchtums ungeachtet ein Vater, der in jungen Jahren gewiß auch den Zwist mit seinem eigenen Vater erlebt hatte, denn er war unzweifelhaft auf dieselbe Art zur Welt gekommen wie alle anderen Menschen. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte er nichts davon gewußt, bis er unvermittelt seinem Sohn gegenüberstand, der inzwischen selbst zum Mann herangereift war — ohne daß er Zeuge all der Mühen, Enttäuschungen und Sorgen geworden wäre, die den Weg vom Jungen zum Mann begleiten. Abgesehen von der nützlichen Eigenschaft des Selbstzweifels, die zur Bescheidenheit erzieht, war Olivier ein vollständiger und vollkommener Mann. Allerdings besitze auch ich nicht gerade übermäßig viel Selbstzweifel, dachte Philip mit leisem Spott.
    Nun, es war Zeit. Er stieg über die schmale steinerne Treppe von der Brustwehr herab, um sich zur Vesperandacht den anderen beizugesellen.
    Am Abend jenes sechsten Dezember war die Zahl der Teilnehmer an der Andacht geringer als sonst, denn der Burgherr hatte die Wache verstärkt, und die Schmiede waren noch an der Esse und in der Waffenkammer beschäftigt. Philip hörte aufmerksamder Psalmenlesung des Benediktiners aus Shrewsbury zu.
    »Ich bin gerechnet zu denen, die in die Grube hinabfahren. Ich bin wie ein Mann, der keine Kraft hat, unter die Toten hingestreckt... Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Tiefen...«
    Selbst hier erinnert er mich daran, dachte Philip und nahm das Vorzeichen an. Nicht Cadfael hatte den Psalm ausgesucht; er war für diesen Tag festgelegt, an dem die Kirche das Fest des heiligen Nikolaus feierte.
    »Meine Bekannten hast du von mir entfernt, hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich bin eingeschlossen und kann nicht herauskommen.«
    Es fällt leicht anzunehmen, Gott habe bestimmte Worte für die Andacht des Tages gewählt, damit der richtige Mund sie vorträgt. Eine andere Art von Losorakel.
    Aber ich glaube nicht daran, überlegte Philip, zwischen Bedauern und Trotz schwankend. Die ganze chaotische Welt taumelt dahin, vom Zufall gesteuert.
    »Wirst Du an den Toten Wunder tun? Oder werden die Gestorbenen aufstehen und Dich preisen?«
    Nun?, formulierte Philip stumm seine Herausforderung: werden sie? Bisher war er überzeugt, daß alles nach seinem Willen geschehen mußte.
    Nach der Abendmahlzeit verließ Philip den Rittersaal und zog sich allein in seine Gemächer zurück. Dort nahm er einen Schlüssel, dessen Aufbewahrungsort außer ihm niemand kannte, verließ den Bergfried und ging zum Turm an der Nordwestecke der Ringmauer hinüber. Ein feiner Schneeregen fiel. Noch waren es keine Flocken, doch hier und da bedeckte schon eine dünne weiße Schicht das Steinpflaster, die aber den nächsten Morgen nicht erleben würde. Dem Wächter auf dem Turm entging nicht, daß die hochgewachsene Gestalt den Hof überquerte. Doch er rührte sich nicht, denn er kannte den Mann und wußte, wohin er wollte. Es war das erste Mal seit mehreren Wochen, daß er jenen Turm aufsuchte. Es gab da einen Namen, den niemand nennen durfte, der sich aber auch nicht aus dem Gedächtnis verbannen ließ. Der Wächter überlegte, was den Herrn an ihn erinnert haben mochte, ohne aber dem Gedanken weiter nachzugehen.
    Die Tür am Fuße des Turmes, die der erste Schlüssel öffnete, war schmal und hoch. Ein Schwertkämpfer, unterstützt von einem Bogenschützen, der drei Stufen höher hinter ihm stehen und über seinen Kopf hinweg zielen würde, konnte den Eingang mühelos gegen ein ganzes Heer verteidigen. Im Inneren brannte in einem Wandhalter eine kurze Fackel. Sie warf ihr Licht auf die nach unten führenden Stufen der Wendeltreppe. An ein Entkommen war von dort nicht zu denken. Sogar die Luftschächte, die aus den beiden Kellergeschossen durch die mächtigen Mauern nach oben führten, endeten nicht an der Außenseite der Ringmauer, sondern im Innenhof.
    Selbst wenn es einem Gefangenen gelänge, sich seiner Ketten zu entledigen und sich mühevoll durch die nach oben enger werdenden Luftschächte emporzuarbeiten, würde man ihn sogleich entdecken und unverzüglich wieder an den Ort seiner Gefangenschaft zurückbringen.
    Im untersten Kellergeschoß steckte Philip den zweiten Schlüssel

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