Bruder des Schwertes
auf den Dachgarten des Palasts. Um ihn herum schlief alles. Er trat an die Brüstung und blickte über die Stadt. Der Mond stand fast im Zenit, was in dieser Gegend bedeutete, daß er sich etwa im dritten Viertel befand und zunehmen würde, während er sich dem östlichen Horizont näherte. Er schwebte majestätisch am Dämmerhimmel und fügte sein bleiches Licht dem diffusen Leuchten hinzu, das alle Dämmerungsländer erfüllte, und der weißen Glut der verborgenen Sonne. Die Stadt lag dunkel und still unter dem Himmel in tiefem Schlaf. Nur die gedämpften Schritte der Wachen und ihre Rufe drangen zu Kery herauf. Jenseits der Mauern brannten kreisförmig die Feuer der Ganasthi, und er konnte ihre Zelte und die schwarzen Gestalten der Krieger erkennen.
Das ganze Land war in Schweigen versunken und wartete auf den Tod von Ryvan. Es erschien ihm nicht richtig, hier inmitten der duftenden Gärten zu stehen und die warme Westbrise auf seinem Gesicht zu spüren, während der unerschütterliche Lluwynn, Boroda der Starke und der heitere Kormak, sein Kamerad, zu Asche geworden waren, über der die Frauen von Killorn klagten. O Killorn, Killorn und der See des Sonnenuntergangs, sind ihre Geister zu dir zurückgekehrt? Grüße Morna von mir, Kormak, flüstere ihr im Wind, daß ich sie liebe. Sage ihr, daß sie nicht trauern soll.
Er vernahm, wie sich jemand ihm näherte, und wandte sich verärgert um. Dann hob sich seine Stimmung, als er Sathi erkannte. Sie bot einen herrlichen Anblick, als sie näherkam – jung, geschmeidig und schön, das dunkle Haar offen um ihre Schultern fließend.
»Du bist wach, Kery?« fragte sie und setzte sich auf die Brüstung neben ihn.
»Natürlich, Lady, ansonsten müßtet Ihr träumen.« Er lächelte matt.
»Eine dumme Frage, nicht?« Sie öffnete ihre Lippen zu einem lieblichen Lächeln. »Aber ich fühle mich nicht ganz auf der Höhe.«
»Das tut niemand von uns, Lady.«
»O, vergiß doch diese Anrede, Kery. Ich fühle mich auf meinem Thron einsam genug. Nenne mich zumindest bei meinem Namen.«
»Ihr seid sehr freundlich – Sathi.«
»Das ist besser.« Wieder lächelte sie gedankenvoll. »Wie du heute gekämpft hast! Wie du sie vernichtet hast! Was bist du für ein Krieger, Kery, der du auf wilden Bullen reitest, als wären sie Pferde?«
»Wir vom Broina-Clan sind anders. Wir spüren Dinge, die andere Männer nicht zu fühlen scheinen.« Kery setzte sich neben sie und merkte, daß die innere Kälte ein wenig nachließ. »Aye, Macht ist oft mit Einsamkeit verbunden, und Ihr fragt Euch, ob Ihr dies ertragen könnt, nicht wahr? Mein Vater fiel in unserer ersten Schlacht gegen die Ganasthi, und nun bin ich der Broina. Aber wer bin ich, meinen Clan zu führen? Ich vermag nicht einmal die erste Pflicht meiner Stellung zu erfüllen.«
»Und worin besteht diese?« fragte sie.
Er erzählte ihr von der Götterpfeife. Er zeigte sie ihr und berichtete von ihren Taten. »Man fühlt sein Fleisch erbeben, die Knochen beginnen zu splittern, Felsen tanzen, Berge stöhnen, und die Tore der Hölle öffnen sich. Aber nun schweigt die Pfeife für immer, Sathi. Niemand weiß sie zu spielen.«
»Ich hörte von eurer Musik während der Schlacht.« Sie nickte ernst. »Ich wunderte mich darüber, daß sie nicht auch diesmal ertönte.« Furcht stand in ihren Augen, und die Hand, die das abgegriffene Instrument berührt hatte, zitterte ein wenig. »Und dies ist die Pfeife von Killorn! Du kannst sie nicht spielen? Du kannst es nicht lernen? Es wäre die Rettung von Ryvan, die deines Volkes und vielleicht sogar die aller Dämmerungsländer, Kery.«
»Ich weiß, aber was kann ich tun? Wer versteht schon die Mächte des Himmels oder vermag die Tore der Hölle öffnen außer Llugan Longsword selbst?«
»Ich weiß nicht. Aber Kery – diese Pfeife … Glaubst du wirklich, sie ist von Göttern und nicht von Menschen geschaffen worden?«
»Wer außer einem Gott könnte so etwas fertigbringen, Sathi?«
»Ich sagte, ich weiß es nicht. Und dennoch … Sag, wißt ihr in Killorn, wie die Welt aussieht? Haltet ihr sie für eine flache Ebene, über der die Sonne ewig an derselben Stelle befestigt ist?«
»Ich nehme an, ja. Obgleich wir Männern aus dem Süden begegnet sind, die behaupteten, die Welt wäre eine runde Kugel und bewegte sich auf solche Weise um die Sonne, daß sie ihr stets dieselbe Seite zuwendet.«
»Ja, die Weisen von Ryvan sagen uns, daß dies der Fall sein muß. Sie haben dies herausgefunden,
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