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Bruderdienst: Roman (German Edition)

Bruderdienst: Roman (German Edition)

Titel: Bruderdienst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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und eine weitere Nacht lang in ihren Dingen herumgewühlt, hatte Briefe von Männern gefunden, denen er nie begegnet war, Fotos von Leuten, die er nicht kannte, Postkarten aus einer Welt, die er nie erlebt hatte. Und jede Menge Fotografien von sich selbst, mit Mutter, mit Mutter und Männern, deren Namen er vergessen hatte, mit anderen Kindern, mit Halbwüchsigen, aus der Zeit, als er sein Abitur machte. Es war seine Art, um sie zu trauern, und nur einmal verließ er das Haus, um in einem Schnellimbiss etwas zu essen. Zuweilen schlief er über einem alten Liebesbrief ein, schreckte dann plötzlich hoch, als habe er einen wichtigen Termin versäumt.
    Am Morgen des neunten Tages ging er zur Praxis von Dr. Werrelmann und ließ sich einen Vitamin-B-Komplex spritzen.
    »Du solltest wieder arbeiten, mein Junge«, bemerkte der Arzt. »Nicht rumhängen und in alten Sachen wühlen.«
    »Ja, du hast wohl recht. Aber sie hat so viele Leben gelebt, und ich habe von so vielen Dingen nichts gewusst.«
    »Sie war eine wunderbare Frau, bis zuletzt.«
    Dehner setzte sich in die S-Bahn und fuhr zum Dienst. Er meldete sich nicht zurück, sondern ging direkt in sein Büro schrieb hochkonzentriert sein Abenteuer in San Francisco nieder. Drei Stunden später lieferte er sechs eng beschriebene DIN-A4-Seiten im Sekretariat für Sowinski ab.
    Anschließend machte er sich wieder an die Arbeit, die er vor seinem Ausflug in die USA begonnen hatte. Er versuchte, einen zwanzig Jahre alten Fall systematisch aufzuarbeiten, und verstrickte sich in einem Wust an handschriftlichen Zetteln, die kaum zuzuordnen waren und meistens kryptisch auf Personen verwiesen, die nur mit ihren Initialen bezeichnet waren. »H.S. sagt: Nicht eingreifen!« Es kamen ellenlange Treffberichte zum Vorschein, die mit der Ernsthaftigkeit von Kleingeistern irgendwelche Vorgänge beschrieben, die für den Leser nicht auf Anhieb zu durchschauen waren. Dehner mochte diese Arbeit nicht.
    Sowinski rief ihn gegen vierzehn Uhr zu sich.
    »Ich habe den Bericht gelesen. Gut gemacht. Haben Sie Zeit, uns bei einem Problem zu helfen?«
    »Ja, natürlich.«
    »Haben Sie Ihre Mutter beerdigt?«
    »Noch nicht. Sie wird eingeäschert.«
    »Wie geht es Ihren gesundheitlich? Ich sehe, das Ohr ist jetzt verpflastert, so langsam werden Sie wieder ein normaler Mensch. Um auf den Punkt zu kommen: Wir brauchen Hilfe. Goldhändchen hat ungefähr fünfzig international tätige Reeder auf der ganzen Welt herausgesiebt, die wir systematisch kontaktieren müssen. Wichtig ist, dass wir nicht im Vorzimmer hängen bleiben, sondern die Leute persönlich ans Telefon kriegen. Und dass wir so klar wie möglich rüberbringen, dass wir ihre Hilfe brauchen. Goldhändchen wird Sie einweisen. Viel Erfolg.«
    Dehner hatte zwar schon von Goldhändchen gehört, aber noch nie persönlich mit ihm zu tun gehabt. Er klopfte, und Goldhändchen schrie von innen: »Immer herein mit uns.«
    Er saß in seinem Kommandostand und taxierte Dehner langsam von unten nach oben. Dann sagte er: »Passabel.«
    »Dehner«, sagte Dehner, »Sie sollen mich einweisen.«
    »In was denn? In die Kunst des Lebens? Sie sehen so traurig aus.«
    »Ja«, sagte Dehner. Ihn verwirrten die vielen Bildschirme, die ganzen technischen Geräte, die Unmengen an Kabeln und die wuchernden Grünpflanzen, die wie stumme Besucher unter ihren Spezialleuchten dämmerten.
    Goldhändchen trug ein schneeweißes Jackett zu einer Hose, deren Farbe irgendwo zwischen Lila und Rot angesiedelt war.
    »Gucken Sie mal auf Bildschirm sechs, schräg rechts von Ihnen. Da sehen Sie unser Problemchen, einen stinknormalen Container. Er ist zwanzig Fuß lang. Es gibt auch welche mit dreißig oder vierzig Fuß, letztere nennt man Longfeet. Sie kennen die Dinger sicher, mein Lieber, man sieht sie überall und jeden Tag. Auf den jeweils vier Seiten des Containers sind kleine Tafeln angebracht, die eine komplette Auskunft geben. Wem gehört das Ding? Woher kommt es? Was für Innenmaße hat es? Was steckt drin? Wem gehört die Ladung? Wohin geht sie? Und, und, und. Alles klar so weit, mein Lieber?«
    »Ich bin nicht Ihr Lieber«, sagte Dehner möglichst ausdruckslos.
    »Das ist richtig, das war auch nur freundlich gemeint, manchmal bin ich ein wenig leutselig. Nun gut. Wir suchen unter den Containern dieser Welt einen ganz bestimmten, den man normalerweise nie finden würde. Aber der hat irgendwo die Ziffernfolge eins, null, acht, null stehen. Wie wir annehmen außerhalb der Tafeln und

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