Bruderdienst: Roman (German Edition)
unerfahren.«
Zwanzig Minuten später fuhren sie nach Kreuzberg, um bei Kim vorbeizuschauen.
Das Parfüm stand auf dem Couchtisch, Kim war verschwunden.
»Das gibt es nicht!«, sagte Müller fassungslos.
»Kann irgendetwas vorgefallen sein? Irgendein Besucher, ein gefährlicher Besucher? Kann er einen Spaziergang machen? Kauft er sich ein belegtes Brötchen? Hat er überhaupt Geld?« Svenja ging sehr schnell im Zimmer auf und ab.
Müller hockte sich in einen Sessel. »Jetzt nicht durchdrehen!«, befahl er.
»Er hat sich vielleicht ausgesperrt.«
»Kim? Niemals. Er ist viel zu ängstlich und viel zu aufmerksam. Der Schlüssel steckt nicht in der Tür. Er muss ihn also bei sich haben. Aber er würde um diese frühe Tageszeit nicht allein auf die Straße gehen. Und warum auch, er hat doch alles hier. Und ich habe ihm angesehen, dass er todmüde war. Hoffentlich hat er keinen psychischen Zusammenbruch erlitten. Kann es sein, dass er in so etwas wie eine Psychose hineingerutscht ist? Oder vielleicht in eine Art Angstattacke?«
»Ich weiß es nicht. Und was tun wir jetzt? Unser Flieger wartet nicht«, stellte sie fest. »Und Krause auch nicht.«
»Moment mal«, sagte Müller. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren. »Lass uns mal in den Keller gehen. Er hat angedeutet, dass der Keller reichen würde, um ihn zu beherbergen. Er redete dauernd solche Sachen.«
Svenja blieb dicht hinter ihm und wandte ein: »Das ist doch Quatsch! Das kann doch gar nicht sein.«
»Bei Kim kann das schon sein, er ist wirklich sehr speziell.«
Der Aufzug kam.
»Und was soll er denn im Keller?«
»Ich weiß nicht, was er da soll. Keine Ahnung. Was anderes fällt mir nicht ein«, stellte er fest und stapfte wütend die Kellertreppe hinunter.
Der Keller bestand aus einem schmalen Gang, rechts und links davon lagen Lattenverschläge, von denen jeder mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Es war ein sehr aufgeräumter Keller von sehr ordentlichen Mietern: kein Gerümpel, keine Spinnweben, alles absolut staubfrei.
Kim hatte das kleine Vorhängeschloss geöffnet und sich in die hinterste Ecke des Bretterverschlags gehockt. Er hatte den Kopf auf die Knie gelegt und ihn mit beiden Armen bedeckt, als erwarte er eine Explosion. Er hatte nichts mitgenommen in sein Verließ, nicht einmal eine Decke. Es war furchtbar kalt.
»Kim«, murmelte Svenja und ging in die Hocke. »Was machst du denn hier?«
»Da waren Männer«, sagte Kim leise, ohne sich zu rühren.
»Komm, bitte steh auf«, sagte Svenja. »Was für Männer?«
Er hob den Kopf und sah sie an. »Männer«, beharrte er.
»Kim, bitte, steh jetzt auf und komm wieder mit nach oben«, sagte Müller fest.
Kim rappelte sich auf und schüttelte wortlos den Kopf, als müsse er erst wieder zu sich kommen.
»Haben diese Männer bei dir geklingelt?«, fragte Müller.
»Nein, haben sie nicht. Ich stand auf dem Balkon und habe auf die Straße runtergesehen. Dann kam ein Auto, ein großes, schwarzes, und sie stiegen aus. Dann standen sie zusammen und sahen nach oben, genau zu mir …«
»Was passierte dann?«, fragte Müller ganz sanft.
»Ich habe Angst bekommen. Sie sahen so aus wie die Männer, die uns in dem Hotel in Seoul angegriffen haben. Ich bin aus der Wohnung raus und runter in den Keller gerannt.« Er atmete heftig.
»Oh, Kim.« Svenja legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.
Sie brachten ihn nach oben. Er begann schon unterwegs, sich stammelnd zu entschuldigen, und sie bemühten sich, ihm zuzuhören, mussten aber schleunigst weiter.
Svenja rief den Diensthabenden an, schilderte ihm die Situation und bat, einen Arzt vorbeizuschicken. »Mit einem Kilo Sedativa!«, sagte sie. Außerdem sollten sie Kims Wohnung für die Zeit ihrer Abwesenheit beobachten lassen. Wer konnte schon wissen, wer ihrem armen Flüchtling auf den Fersen war.
Nachdem sie Kim versichert hatten, dass jemand kommen und auf ihn aufpassen würde, saß er zusammengesunken auf der Couch und stierte vor sich hin, als sei er in einem bösen Traum gefangen.
»Ich hasse es, ihn allein zu lassen«, sagte Müller aufgebracht.
Der kleine Jet, mit dem sie flogen, startete pünktlich. Krause äußerte nörgelig: »Warum müssen derartige Operationen nur immer so teuer sein?«
SECHZEHNTES KAPITEL
Thomas Dehner hatte zugesehen, wie seine Mutter in den Sarg gelegt und abtransportiert worden war. Sie sollte eingeäschert werden, wie sie es sich gewünscht hatte. Er hatte einen Tag
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