Bruderdienst: Roman (German Edition)
als ich loszog?«
»Ich war mit dieser Sache überhaupt nicht befasst«, erklärte er förmlich. »Das tut mir leid, aber es war damals so, dass wir interne Umstellungen im Dienst hatten. Als ich von Ihrem Einsatz erfuhr, waren Sie bereits unterwegs.« Er verschwieg ihr, dass er damals in heller Wut dem Präsidenten seinen Rücktritt angeboten hatte. Und er verschwieg ihr auch, dass er sich selbst die Schuld dafür gab, dass andere Leute Svenjas Leben aufs Spiel gesetzt hatten. »Wie Kinder, die Indianer spielen wollen!«, hatte er gebrüllt. Und seiner Frau hatte er später in tiefem Kummer offenbart: »Es fühlt sich an, als hätte ich eine Tochter im Stich gelassen.«
»Ich bin ja nur aufgrund meines Aussehens geschickt worden.« Sie sprach langsam und kontrolliert. »Sie sagten mir, Cheng sei wichtig und allein absolut nicht lebensfähig, ein Träumer, den man unbedingt herausholen müsse. So war es Wu, der den ersten Kontakt zu Cheng aufnahm.«
»Zu Wu komme ich später«, sagte Krause. »Noch Tee, meine Liebe?« Er wollte ihr eine Pause gönnen, er sah, dass ihr Gesicht ganz hart geworden war und dass sie unter Erinnerungen litt, über die sie vermutlich noch mit niemandem gesprochen hatte.
»Glauben Sie, dass tatsächlich eine Bombe verkauft wurde?«, fragte sie und starrte dabei in ihre Teetasse.
»Es wäre ein Albtraum«, sagte er, »aber es würde passen. Wir haben sechshundert Millionen festgestellt. Und die kommen ja nicht aus dem Nichts. Glauben Sie denn an so etwas?«
»Unbedingt«, sagte sie. »Seit ich dort war, lese ich alles über Nordkorea mit anderen Augen. Und es passt. Diese absolut skrupellose herrschende Clique, die das ganze Land in ein Gefängnis verwandelt hat, ist zu allem fähig. Wenn die CIA behauptet, dass die atomare Versuchsexplosion im Jahr 2006 lächerlich gering gewesen sei und dass man Nordkorea nicht mehr als Atomwaffenstaat betrachte, dann klingt das nach Pfeifen im dunklen Wald. Sie haben nach internationalen Berechnungen mindestens fünf Bomben.«
»Werden diese Führer, also toter Vater und Sohn, tatsächlich so verehrt?«, fragte Krause.
»Oh ja, das werden sie. Die Nordkoreaner glauben ernsthaft, dass Vater und Sohn zu den klügsten, ja genialsten Menschen auf dieser Erde zählen. Das glaubte sogar Cheng. Und die Nordkoreaner denken auch, dass es überall auf der Welt noch viel schlechter zugeht als in ihrem eigenen Land. Manches ist in den letzten Jahren etwas freier geworden. Wenigstens das Gemüse, das sie für den Eigenbedarf anbauen, gehört ihnen jetzt. Auf siebzig Quadratmetern. Hin und wieder gibt es sogar Gaststätten oder Bauernmärkte, auf denen man tatsächlich etwas kaufen kann. Aber sobald es um die Führungsclique geht, ist jeder Fortschritt undenkbar.«
»Sie waren also bei Cheng. Wie fanden Sie ihn vor?«
»Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ich fand einen alten Mann in einer abseits stehenden Hütte, der vor seinem Feuer hockte und Träume träumte, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich hatte einen Code. Ich sollte einen bestimmten Satz auf Chinesisch sagen. Das tat ich. Er starrte mich an, als habe er mit so etwas niemals gerechnet. Ich war eine Störung. Er hatte es sich wohl inzwischen anders überlegt. Er wollte gar nicht mehr ausgeschleust werden, er wollte einfach bis an das Ende seiner Tage in dieser Hütte sitzen. Einmal sagte er sogar, er habe Lust, Kaninchen zu züchten. Es sei gutes Fleisch, und die Felle seien warm, und mehr brauche er ja nicht. Jetzt hatte er plötzlich ein Riesenproblem – und das war ich.«
»Hatte er Nachbarn?«
»Ja, die nächsten Hütten lagen vielleicht vierhundert Meter entfernt. Da lebten Menschen, deren Angehörige in einem nahen Lager inhaftiert gewesen waren. Sie bekamen nur ganz selten Nahrungsmittel. Sie lebten von der Hand in den Mund, sie waren Müllmenschen. Sie waren wirklich mies, Leute, die bereit gewesen wären, dir für ein paar Konserven den Schädel einzuschlagen. Cheng wollte mit ihnen nicht das Geringste zu tun haben.«
»Und wer versorgte Cheng?«
»Ein Polizist, immer derselbe. Auf einem Fahrrad. Manchmal brachte er Reis, manchmal Mais, aber nie Fleisch.«
»Ernährte er sich von Ratten?«
»Nein. Da gab es Kröten. Die tötete er, nahm sie aus und legte sie aufs Feuer.«
»Wie schmeckt Kröte?«
»Eigentlich gut, ein bisschen wie Kalbfleisch.«
»Also, Sie kamen an, klopften. Wie reagierte er?«
»Nicht sehr einladend. Sein zweiter Satz war, er lebe allein, er könne
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