Bruderdienst: Roman (German Edition)
ihr habt ja auch nicht genug zu essen.«
Müller reagierte scharf. »Das ist einfach nicht wahr. Wir haben sogar so viel zu essen, dass wir vieles wegwerfen.« Dann sah er die massive Verunsicherung in Kims Gesicht und ermahnte sich erneut: Nur nicht treiben! »Wie bist du denn geflüchtet?«, fragte er.
Kim überlegte zwei Sekunden: »Ich habe mich schließlich einfach auf den Weg gemacht.« Er klang so, als habe er eine lange Zeit für diese Entscheidung gebraucht.
»Hast du das vorbereitet?«
»Ja, aber nicht sehr gut.«
»Gibt es viele Menschen, die aus Nordkorea flüchten?«
»Nicht wirklich viele. Die meisten haben Angst, und deshalb gehen sie nicht.«
»Ist es richtig, dass Familien, aus denen einer geflohen ist, ins Lager kommen?«
»Ja. Wenn einer flüchtet, ist der Wurm des Verrates in der Familie. Und sie glauben nicht mehr an unsere Führer.«
»Glaubst du das auch?«
»Ich weiß nicht. Manchmal ja, manchmal nein.« Die Fragen waren ihm offensichtlich zu aufdringlich, seine Ablehnung war spürbar. »Woher kommst du?«
»Aus Deutschland.«
»Wir hatten früher viele Leute aus Deutschland. Fachleute, Ingenieure, Techniker und so. Sie haben meinem Volk viel geholfen.«
»Das war zu Zeiten der DDR«, sagte Müller. »Die gibt es nicht mehr.«
»Davon habe ich gehört. Es gibt viele Bruderländer nicht mehr.«
»Ja, das ist richtig.«
Er dachte, es ist hart für dich, mein Freund. Wonach immer ich dich frage, musst du Mieses bestätigen: kein Essen, keine Hoffnung, keine Informationen, kein Kurztrip nach Europa, kein Strom, kein Benzin, keine Kneipen, nichts Fröhliches. Aber ich muss trotzdem weiterfragen.
»Was hast du denn an deinem Arbeitsplatz tun müssen?«
»Ich war zuständig für dreihundert Lkw.«
»Und was transportierten die?«
»Alles, was zu transportieren ist. Aber es sind besondere Lkw, sie haben einen, wie sagt man das? Sie arbeiten mit Holz.«
»Du meinst wahrscheinlich Holzvergaser. Ihr habt wenig Sprit und Diesel, davon habe ich gehört. Aber die politische Elite hat sicher genug davon. Das ist überall so.« Und dazu lächelte er ein Verschwörerlächeln.
»Ja, natürlich.« Kim nickte mit ernster Miene. Dann wandte er sich von Müller ab, als wolle er damit demonstrieren, dass er genug hatte von arroganten Fragen.
»Und was musstest du tun mit all den dreihundert Holzvergaser-Lkw?«
Kim drehte sich wieder zu Müller um. »Das ist doch jetzt nicht wichtig«, stellte er fest. Sein Gesicht war dabei ganz ruhig und der Blick seiner Augen sehr konzentriert. Aber er sah Müller nicht an. »Ich frage mich, wen du von diesem kleinen Felsen herunterholen solltest. Ich bin der falsche Mann, oder? Du hast mich verwechselt.«
»Oh Mann«, seufzte Müller und schloss die Augen. Er hatte keine Vorstellung, wie er diese Situation entspannen konnte. Was immer er sagte, konnte falsch und kontraproduktiv sein, konnte Kim verängstigen oder einschüchtern. Und trotzdem sah er keine andere Möglichkeit, als Kim reinen Wein einzuschenken. Die Wahrheit würde sein Weltbild auf den Kopf stellen und ihm Angst machen, so viel Angst, dass er sich auf den Felsen von Topo zurücksehnen würde.
»Ich sage dir jetzt meine Wahrheit«, begann er. »Ich kann keine der Einzelheiten beweisen, und ich bitte dich einfach, mir zu glauben. Ich bin ein Agent, ein Spion, wenn du willst. Ich bin auf diesem Meer, um einen Mann aus Nordkorea herauszuholen. Du sagst, dass du dieser Mann nicht sein kannst, weil du nichts von Wichtigkeit weißt, weil niemand im Ausland dich kennt, weil keiner erwarten kann, dass du irgendetwas verrätst. Du hast nichts, was du verraten kannst. Ist das richtig so?«
Da hockte dieses Häufchen Elend, nickte und starrte in das Chaos auf dem Deck. Alles an seinem Körper war in einer extremen Spannung, er hatte die Fersen angehoben, und seine Beine zitterten.
»Ich weiß nichts Genaues«, fuhr Müller fort. »Ich weiß nur, dass auf diesem Felsen ein Mann warten sollte, der etwas von den Raketen weiß, die möglicherweise bis nach Europa geschossen werden können. Das sagte ich schon.«
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Kim zögernd nickte. Und er mochte Müller immer noch nicht ins Gesicht blicken, hatte den Kopf tief geneigt. Ein wenig wirkte er, als erwarte er den tödlichen Schwertstreich eines Henkers. Ein ewiger Verlierer.
»Also gut, du warst auf dem Felsen. Nicht der richtige Kim, den ich erwartet habe. Kann es sein, dass du einen anderen Kim kennst, der auf dem Felsen
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