Bruderdienst: Roman (German Edition)
war eine öde Betonhöhle, die feucht und muffig roch. Als Kim vor Müller den ersten Absatz auf dem Weg nach unten erreichte, brach er zusammen, als seien seine Gelenke aus Gummi.
Leise sagte Müller: »Na, endlich!« Darauf hatte er gewartet. Niemand, der nicht gut trainiert war, konnte ohne Folgen so lange unter lebensbedrohender Hochspannung stehen. Er kauerte neben Kim nieder und wartete. Hoffentlich hat er keinen Herzfehler!, schoss es ihm durch den Kopf.
Kim kam nach einigen Minuten wieder zu sich. Er zitterte heftig, und das Entsetzen stand ihm in den Augen.
»Du bist zusammengeklappt«, sagte Müller leise. »Das passiert schon mal. Steh ganz vorsichtig auf. Wenn du wacklig bist, warten wir noch.«
»Es geht schon wieder«, sagte Kim.
Sie gingen sehr langsam weiter und horchten dabei immer wieder mit angehaltenem Atem in die Stille.
Als sie nach einer Ewigkeit endlich die Tiefgarage erreichten, blieben sie stehen und sahen sich um. Kein Mensch weit und breit, kein Auto bewegte sich.
»Die Einfahrt ist von hier aus gesehen rechts«, stellte Müller fest. »Wenn jemand kommt, kommt er von dort. Wir bleiben also hier und warten. Und vielen Dank, du bist ein guter Mann.«
»Ich hätte mir beinahe vor Angst in die Hose geschissen«, stellte Kim fest. »Ich bin alles Mögliche, nur kein Held. Hast du diesen Mann getötet?«
»Ich weiß es nicht, ich hoffe nein. Wie geht es dir jetzt?«
»Schon besser, aber ich zittere wie ein alter Mann.«
»Ich auch«, erwiderte Müller. »Das haben wir alten Männer so an uns.«
Sie warteten zwanzig Minuten, bis ein Toyota Kleinlaster herangerollt kam. Die Seitentür glitt auf, ein Mann sagte mit verhaltener Stimme auf Deutsch: »Rein hier!«
Kim glitt als Erster in den Wagen, dann Müller. Der Toyota fuhr sofort los.
»In der Ausfahrt ducken!«, sagte ein Mann, den sie im Dunkeln nicht sehen konnten.
Der Wagen fuhr langsam, beschleunigte nicht. Der Mann sagte: »Wir lassen es gemütlich angehen, wir wollen ja nicht auffallen. Und wir müssen feststellen, ob wir allein sind. Guten Morgen, Karl Müller.«
»Du tust mir richtig gut.« Müller klang erleichtert.
Kim kramte verbissen in der blauen Tasche herum, betrachtete eingehend, was er in die Finger bekam, und legte es anschließend wieder zurück. Plötzlich hatte er zwei kleine Fotos in der Hand, die er einen Augenblick lang anstarrte. Dann sagte er tonlos: »Sieh mal hier. Ein Foto von dir. Und ein Foto von meinem Bruder.«
Sie hatte gegen sechzehn Uhr, kurz vor ihrem dritten Anruf bei Wu, in Essers Büro hineingeschaut, und er hatte lächelnd und wortlos auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch gedeutet. Es gab Leute, die nannten ihn den Seelsorger.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin unsicher«, erklärte sie. »Ich will gleich noch mal mit Wu reden. Ich finde, er ist ein guter Kerl, und er ist sehr gescheit. Und ich hasse es, als Verhörmieze aufzutreten und ständig der Wahrheit hinterherzujagen. Das ist so … so …«
»So offiziell, so unmenschlich«, sagte Esser. »So kalt.«
»Ja. Genau das. Ich komme weiter, wenn ich sein Kumpel bin. Aber dann stört mich noch etwas. Ich muss zumindest ungefähr wissen, was Sie sich vorstellen. Sonst frage ich vielleicht in die verkehrte Richtung.«
»Krause hat Satellitenaufnahmen gesehen, auf denen man von sehr weit oben einen Konvoi von Militärlastern erkennen kann, und auf derselben Kreuzung steht Wu mit seinem Riesentruck. Vermutlich wurde das komplett in Szene gesetzt, um eine falsche Fährte zu legen. Inzwischen sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass die ersten Kontakte bei dem Deal mit der Atombombe schon vor mehr als einem Jahr angelaufen sind, möglicherweise als Sie in Korea waren. Vernachlässigen wir mal die Containertheorie, denken wir pragmatisch. Man könnte so eine Bombe auch in einem ordinären Eisenbahntankwagen unterbringen, denn da wird sie sicher nicht gesucht. Schließlich auch in einer Kiste, in der man normalerweise Möbel transportiert, und, und, und. Also interessiert uns hier wieder Wu, der damals schon sein freundliches Unwesen trieb. Und uns interessiert auch der Larry, der Silverman, die Nancy, die Sie so trefflich beschrieben haben. Und an dieser Stelle hätte ich gern dringend eine Frage geklärt: Kann es sein, dass Sie die eigentliche CIA-Besatzung der US-Amerikaner damals in Peking gar nicht kennengelernt haben?« Esser hielt den Kopf ein wenig schräg und wirkte wie eine neugierige, aber friedfertige
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