Brudermord
Vertrauensverhältnis war das. Wahrscheinlich hätten sie demnächst bei Rita Verlobung gefeiert, ohne dass einer es für nötig befunden hätte, sie einzuweihen. Warum auch? Warum sollte man es ihr auch sagen, dieser selbstgerechten Besserwisserin, die drauf und dran war, die Kanzlei zu ruinieren. Clara starrte auf den flimmernden Bildschirm ihres PCs. Er hatte es ihr nicht gesagt. Warum nur?
Willi und sie hatten so viel miteinander durchgestanden in den letzten Jahren. Als sie vor gut fünfzehn Jahren mit dem vierjährigen Sean und ohne Mann, pleite und tief deprimiert aus Irland zurückgekommen war und schließlich Jura zu studieren begonnen hatte, hatten sie sich kennengelernt. Von da an waren sie immer die besten Freunde gewesen. Viele Jahre später hatten sie gemeinsam die Kanzlei gegründet, die alten Räume gestrichen und renoviert, gewerkelt bis zum Umfallen, nebenbei immer auf der Suche nach Mandanten, auf der Suche nach Lücken und Nischen im dichten System der Münchner Anwaltsschwemme.
Willi hatte oft mit Sean Hausaufgaben gemacht, wenn Clara die Geduld gefehlt hatte, oder auf ihn aufgepasst, wenn sie bei Gericht war. Vor fünf Jahren war dann noch Elise dazugekommen, dieses tapsige Knäuel Hund mit den riesigen Pfoten, das mit Vorliebe Willis exotische Rechtskommentare anzunagen pflegte, eine Gewohnheit, die sie bis heute nicht abgelegt hatte.
Und das alles war nicht genug, um sich zu vertrauen? Um sich einander anzuvertrauen, wenn man sich verliebt hatte? Clara hatte Willi von Mick erzählt, nicht sofort, aber doch recht bald. Nur beiläufig, nicht wirklich ausführlich, aber sie hatte es ihm erzählt. Nur ihm. Niemand anderem. Sie begann wütend, auf der Tastatur herumzuhämmern. Du kannst mich mal, Willi. Allewelt, flüsterte sie leise, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr könnt mich alle mal.
Als Clara aus der S-Bahn stieg, wehte sie der scharfe Wind fast um. Zitternd versteckte sich Elise hinter ihren Beinen, den Schwanz zwischen die Pobacken geklemmt, und winselte. Clara klappte den Mantelkragen nach oben und schob ihre Hände in die Taschen. Das Wetter passte hervorragend zu ihrer Stimmung.
Sie ging mit der unwilligen Elise hinunter zum See. Grau und unruhig lag er da, der Wind trieb kleine, zerfetzte Wellen an den verlassenen Kiesstrand, wo im Sommer die fetten Schwäne mit gespreizten Flügeln auf und ab marschierten und jeden anzischten, der ihnen zu nahe kam. Clara hatte am Ende doch noch etwas gefunden, was sie vom Warten auf Grubers Anruf und ihren trüben Gedanken wegen Willi und Linda ablenkte. Ihr war etwas eingefallen, was womöglich der Sache dienlich war, ohne dass sie Gruber in die Quere kam, und was sie schon seit geraumer Zeit hatte tun wollen: Sie würde Agnes Thiele aufsuchen und mit ihr sprechen.
Dr. Thiele wohnte nicht sehr weit entfernt von Claras Elternhaus in einer kleinen Seitenstraße, die von der Straße zum See hinunter abzweigte, gesäumt mit hohen, zu dieser Jahreszeit kahlen Bäumen und Einfamilienhäusern aus den Fünfzigern in leeren, grauen Gärten. Agnes Thieles Haus war etwas zurückgesetzt und hatte eine gemauerte Veranda, die von wildem Wein überwuchert war, dessen knorrige Ausläufer bis unter das Dach reichten. Im Sommer und vor allem im Herbst mochte das ein schönes Bild abgeben, doch jetzt wirkten die grauen, nackten Ranken wie leblose Finger einer alten Hand, die sich traurig und vergeblich am rauen Putz der Hausmauer festzuklammern versuchten.
Clara blieb am Gartentor stehen. Sie spürte, wie eine plötzliche Mutlosigkeit sie zu überwältigen drohte: Alle Fensterläden im ersten Stock, braune verwitterte Dinger, die längt einen neuen Anstrich benötigt hätten, waren geschlossen. Im Erdgeschoss gab es keine Fensterläden, doch die Scheiben waren vorhanglos und wirkten wie blinde Augen. Das Haus war verlassen. Dort wohnte niemand mehr. Trotzdem öffnete Clara das kleine Gartentor und ging den gepflasterten, von verwelktem Unkraut und Laub fast verdeckten Weg zur überdachten Haustür auf der linken Seite des Gebäudes. Im Windfang hatte sich ein Haufen welker Blätter gesammelt, die niemand weggekehrt hatte. Der Fußabstreifer lehnte an der Mauer. Sie drückte trotzdem die Klingel. Der schrille Ton hallte durch das Haus, und Clara konnte die Leere spüren, die er durchbrach. Niemand würde öffnen. Sie stellte sich die verlassenen Räume vor, die die Klingel aus ihrem Dämmerzustand aufgeschreckt hatte. Stille, leere Zimmer, ein
Weitere Kostenlose Bücher