Brudermord
damals vernommen wurden, aber es war vergeblich. Es war kein Pablo darunter. Wie Frau Winter gesagt hatte: Niemand schien ihn vernommen zu haben, es tauchte in der ganzen Akte kein Hinweis auf Ruths Freund auf.
Clara fand das merkwürdig. Zumindest Johannes Imhofen hatte neben Lio Winter von der Beziehung gewusst. Warum hatte er ihn in seiner Aussage nicht erwähnt? Andererseits, warum hätte er es auch tun sollen? Er spielte keine Rolle bei der Tat. Ruth hatte zugegeben, Udo Reimers getötet zu haben, es bestand also gar kein Anlass, weiterzugraben. Und Pablo war am nächsten Morgen abgereist. Doch weshalb hatte Imhofen ihn nach dessen Rückkehr aus Italien unterstützt? Aus schlechtem Gewissen Ruth gegenüber, wie Lio Winter vermutete? Clara schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Es musste etwas anderes dahinterstecken. Irgendetwas, was sie nicht sehen konnte. Und wieder kamen ihr Lios Worte in den Sinn. »Er war Bildhauer.«
Plötzlich fiel ihr ein, woran sie das erinnerte. Sie schlug noch einmal die Strafakte von 1983 auf und suchte nach dem Obduktionsbericht. Da. Da war es: das Foto der Tatwaffe. Clara starrte auf die Skulptur, und das Puzzleteil, das sie seit ihrem Besuch bei Lio Winter in der Hand gehalten hatte, fügte sich in eine Ecke des Bildes ein. Pablo hatte sich an jenem Abend mit Ruth gestritten, es ging um Udo Reimers. Und am Ende war dieser erschlagen worden, mit einer Marmorskulptur. Clara betrachtete das Foto genauer. Es war die Abbildung einer nackten Frau, eine schöne, schlichte Arbeit. Sie war sich sicher, dass sie von Pablo stammte.
Sie drehte den Kopf und sah nachdenklich zum Fenster hinaus: »Und wenn alles ganz anders war?«, murmelte sie leise vor sich hin. »Wenn es Pablo gewesen ist, der Udo Reimers getötet hat?« Sie nickte bedächtig. So könnte es gewesen sein. Und als Imhofen kam, war Pablo längst weg. Er fand nur den toten Reimers und seine betrunkene Schwester, die sich an nichts mehr erinnern konnte … oder die vielleicht sogar bewusst log, um Pablo zu schützen.
Clara stockte der Atem, als sie diesen Gedanken zu Ende dachte. Konnte es sein, dass Ruth die ganzen Jahre für ihren Geliebten geschwiegen hatte? Es war kaum vorstellbar. Andererseits, wer hätte ihr denn geglaubt?
Ein heftiger Windstoß rüttelte an der Fensterscheibe, und Clara konnte den Luftzug spüren, der durch die undichten Ritzen hereindrang. Die wenigen Passanten, die vorbeigingen, hatten den Kopf eingezogen und den Blick gesenkt. Ein ungemütlicher Tag, um sich draußen aufzuhalten.
»Sie ist bei ihm«, murmelte Clara, an niemanden gerichtet, und das, was sie die ganze Zeit schon vage vermutet hatte, wurde ihr plötzlich zur Gewissheit. »Ruth wusste die ganze Zeit, wohin sie gehen sollte. Sie ist zu Pablo.« Der Gedanke beruhigte sie keineswegs. Wie mochte das Wiedersehen nach so langer Zeit verlaufen sein? Fünf Tage waren seit Ruths Flucht vergangen. Fünf Tage. Alles konnte in dieser Zeit passiert sein. Und Clara hatte keinen blassen Schimmer, wo sie anfangen sollte zu suchen.
»Verdammt!«, Clara hieb mit der Faust auf den Tisch. Wenn sie nur irgendetwas tun könnte. Oder wenn sich wenigstens Gruber melden würde. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach zehn.
»Wo nur Willi heute bleibt«, sagte sie zu Linda gerichtet, um überhaupt irgendetwas zu sagen.
»Er kommt heute erst später«, sagte diese, während ihre Finger geschäftig über die Tasten flogen. »Musste noch einiges erledigen.«
»Ach, davon weiß ich ja gar nichts.« Clara hob erstaunt die Augenbrauen. »Das hat er am Freitag gar nicht erwähnt.«
»Nein, das ist ihm erst heute Morgen eingefallen …« Linda verstummte abrupt, und ihre Finger kamen ins Stocken.
»Heute Morgen? Wann soll denn das gewesen sein? Ich war doch schon vor dir da, und er hat nicht angerufen.« Clara krauste die Stirn und musterte ihre Sekretärin verwundert, als diese plötzlich unter dem Tisch verschwand und etwas zu suchen schien.
Als Antwort auf Claras Frage ertönte nur ein undeutliches Nuscheln.
Plötzlich dämmerte es Clara. Sie öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, ohne etwas zu sagen. So war das also. Willis plötzliche Kinoleidenschaft, die gemeinsamen Spaziergänge an der Isar, Spaghetti essen bei Rita … Die Beziehung der beiden war schon sehr viel weiter fortgeschritten, als Clara geahnt hatte. Sie biss sich auf die Lippen. Na toll. Und Willi hatte kein Wort ihr gegenüber darüber verloren. Super Freundschaft, ein echtes
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