Brudermord
Flur, ein Treppenhaus, Speicher, Keller. Waren noch Möbel darin oder war das Haus ausgeräumt, nichts mehr als eine Hülle ohne Erinnerung an die Menschen, die in ihm gelebt hatten?
Am Klingelknopf stand noch der Name: Thiele, auf stumpfem, angelaufenem Messing. Der Briefkastenschlitz an der Tür war zugeklebt. Clara riss das Klebeband ab und spähte hindurch. Ein Flur, spärlich erhellt durch das Licht, das durch die Verandafenster auf der anderen Seite hereinfiel. Sie erkannte einen Läufer mit orientalischem Muster am Boden, verblichen und abgenutzt, und einen kleinen Tisch an der linken Wand, auf dem ein Telefon stand. Sie ließ die Klappe zufallen und strich das Klebeband wieder sorgfältig fest.
Als Clara sich aufrichtete, sah sie am Zaun zum Nachbargrundstück eine Frau stehen, die, einen langstieligen Rechen in der Hand, neugierig zu ihr herübersah.
Elise richtete sich auf und gab ein höfliches »Wuff« von sich.
Als die Frau den Hund bemerkte, trat sie rasch einen Schritt vom Zaun zurück.
Clara nahm Elise am Halsband und winkte. »Grüß Gott, ich suche Frau Thiele«, rief sie und ging auf die Frau zu.
Sie war etwa Ende fünfzig, hatte graues, aufgestecktes Haar und trug statt eines Mantels einen lilafarbenen Wollponcho mit Fransen. Ihre Füße steckten in grünen Gummistiefeln, und um den Hals baumelte an einem Lederband ein Anhänger aus Glas, der ein Auge darstellte. Sie musterte Clara aufmerksam, dann wandte sich ihr Blick zu Elise.
»Ich hoffe, Sie haben einen großen Garten und ein Haus ohne Treppen«, sagte sie streng.
Clara blieb verdutzt stehen. »Äh, nein, wieso?«
Die Frau schüttelte missbilligend den Kopf. »Und sich dann einen solchen Hund anschaffen. Wahrscheinlich wohnen Sie sogar noch in der Stadt.«
»Aber direkt an der Isar«, rechtfertigte sich Clara ganz automatisch. »Elise hat eine Menge Auslauf.«
»Elise? Oh, ich heiße auch Elise!« Die Frau gab Clara über den Zaun hinweg förmlich die Hand. »Elise Sturm, Yogastudio und systemische Familientherapie.«
Clara erwiderte ihren Händedruck: »Clara Niklas, Rechtsanwältin«, sagte sie und kam sich ziemlich albern dabei vor.
Elises Namensvetterin nickte wie zur Bestätigung von etwas, das sie erwartet hatte. »Kommen Sie von denen?«
»Von wem?«
»Na, von den Kindern!«
Clara schüttelte den Kopf. »Ich hätte nur ein paar Fragen an Frau Thiele wegen einer Mandantin von mir.«
»Ach, ich dachte …« Die Frau verstummte einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Die haben sich ja die ganzen Jahre nicht blicken lassen, hätte mich nicht gewundert, wenn sie jetzt eine Anwältin schickten, wegen dem Erbe.«
»Erbe? Frau Thiele ist tot?« Clara war sich nicht sicher, ob diese Nachricht sie tatsächlich überraschte.
»Ja, sicher.« Die Frau schob sich eine graue Strähne hinter die Ohren und steckte sie mit einer Haarnadel fest. Sie hatte fahrige, braune Hände, ausgedörrt wie getrocknetes Leder. »Es war eine Erlösung für die alte Dame, sie war ja schon so lange bettlägerig. Aber dass die Kinder sie überhaupt nie besucht haben …«
»Wann ist sie denn gestorben?«, wollte Clara wissen.
»Lassen Sie mich überlegen … das muss am …« Sie runzelte die Stirn. »Es war an dem Tag, als ich meine Yogadamen zum Brunch eingeladen hatte, da kam plötzlich der Krankenwagen, die Schwester muss ihn wohl gerufen haben, sie haben sie doch tatsächlich noch in die Klinik gefahren, die arme Haut. Es war natürlich nichts mehr zu machen, es war ja schon der dritte Schlaganfall, den sie hatte. Irgendwann ist es genug, nicht wahr?«
Clara nickte vage. »Mm, ja. Und wann …?«, hakte sie dann vorsichtig nach.
»Ach, habe ich das nicht gesagt, das war am Sonntag vor zwei Wochen.«
Clara starrte sie an. »Sonntag vor zwei Wochen? Der vierzehnte Oktober? Sind Sie sicher?«
Frau Sturm nickte bekräftigend. »Aber ja. Der vierzehnte. Das war der Sonntag, an dem meine Yogadamen …«
Clara hörte nicht mehr zu. Agnes Thiele war am gleichen Tag wie Johannes Imhofen gestorben. Gab es solche Zufälle? Sie wandte sich um und betrachtete nachdenklich das Haus. Grau und abweisend stand es in dem verwilderten Garten.
»Sie sagten, es war ein Schlaganfall?«, fragte sie zweifelnd und gleichzeitig bittend. Es musste ein Zufall sein. Es musste.
»Ja, natürlich. Frau Thiele ging auf die achtzig zu. Sie hatte schon zwei kleinere Schlaganfälle. Vor ein paar Jahren den ersten und kurz darauf den zweiten. Seitdem war sie bettlägerig.
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