Brudermord
Deshalb kam auch die Schwester jeden Morgen.«
»Und das ist sicher?«, bohrte Clara nach. »Ganz sicher?«
Elise Sturm warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Soweit ich weiß, ja. Aber wieso interessiert Sie das? Was glauben Sie denn, was mit dieser armen, unschuldigen alten Frau sonst …«
»Arme, unschuldige Frau …«, wiederholte Clara nachdenklich. Wo hatte sie diese Worte schon einmal gehört? Eine arme unschuldige Frau war Agnes Thiele sicher nicht gewesen. Aber irgendjemand hatte etwas erzählt und diese Worte benutzt: »Arme unschuldige Frau …«
Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Es war ihre Mutter gewesen, die diese Bezeichnung gebraucht hatte, als Esther Pronizius am Nachmittag von Ralph Lerchenbergs Beerdigung den Verdacht geäußert hatte, Viktor Selmany habe auch noch eine alte Dame aus ihrem Bekanntenkreis auf dem Gewissen. Wie hatte Esther Pronizius die Frau genannt? So eine Psychoärztin! Clara schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Verdammt! Mist, verdammter!«
Sie warf Elise Sturm, die sie pikiert musterte, einen, wie sie hoffte, beruhigend normalen Blick zu und meinte: »Danke, Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
Frau Sturm sah Clara nach, wie sie mit dem Hund zum Haus zurücklief, durch das Gatter stürmte und dann hastig die Straße hinunterging.
»Wobei geholfen?«, murmelte sie, dann warf sie dem Haus ihrer verstorbenen Nachbarin einen scheelen Blick zu. Es wurde Zeit, dass man mit diesem Haus etwas unternahm. Es hatte eine schlechte Aura. Irgendwie unheimlich. Sie packte ihren Rechen fester und begann, das Laub auf dem Rasen zusammenzurechen.
Clara wusste, wo Frau Pronizius wohnte. Sie besaß eine großzügige Wohnung im ersten Stock eines renovierten Altbaus mitten in Starnberg, aber »nach hinten raus«, wie sie immer wieder betonte, mit Blick auf eine mächtige alte Linde. Clara war mit ihrer Mutter vor Jahren einmal hier gewesen, sie konnte sich nicht mehr erinnern, weshalb, nur noch an die strenge Atmosphäre, die in der Wohnung geherrscht hatte. Dunkle, steife Möbel, Perserteppiche, goldverzierte Spiegel und Stillleben an den Wänden. Eine Wohnung, wie es sich für eine ehemalige Oberstudienrätin geziemte.
Als sie klingelte, ertönte hinter der Tür das hysterische Kläffen von Frau Pronizius’ Yorkshireterrier. Elise spitzte erwartungsvoll die Ohren. Clara griff ihr warnend ans Halsband. »Benimm dich. Du hattest schon dein Frühstück.«
Eine junge Frau öffnete ihnen. Sie hatte ein breites, offenes Gesicht und dunkelblonde Haare und trug einen kurzen, hellblau-weiß gestreiften Kittel über engen Jeans und Birkenstock-Clogs.
Clara stellte sich vor. »Ich würde gerne mit Frau Pronizius sprechen, wenn sie Zeit hat.«
Die junge Frau nickte. »Ich geh’ Frau Pronizius a bisserl zur Hand.«
Clara erinnerte sich daran, vor der Tür ein Auto der Caritas gesehen zu haben. »Es geht ihr doch gut?«, fragte sie besorgt. Eine Nachricht von einem Schlaganfall am Tag reichte ihr.
»Aber ja!« Die Frau nickte wieder. »Pfundig geht’s ihr«, präzisierte sie im breitesten Bayerisch und lachte. »Warten’s doch an Moment, i komm glei.«
Sie deutete auf Elise, zwinkerte verschwörerisch und verschwand dann in einer der Türen, hinter der das Kläffen von Elises zweitem Frühstück unvermindert anhielt.
»Ach, das kleine Niklas-Mädel!«, ertönte plötzlich Esther Pronizius’ kräftige, in Jahrzehnten harten Schulunterrichts geschulte Stimme.
Das Kläffen verstummte plötzlich. Clara überlegte, wie man die halbe Portion wohl zum Schweigen gebracht hatte, und es fielen ihr eine ganze Menge Möglichkeiten ein, von denen Frau Pronizius wahrscheinlich nicht entzückt gewesen wäre.
»Claraschätzchen!« Esther Pronizius freute sich so offensichtlich, Clara zu sehen, dass diese fast ein schlechtes Gewissen bekam. Sie hatte die alte Dame mit der boshaften Zunge und dem verächtlichen Blick nie besonders gemocht, obwohl ihre Mutter bereits seit Jahren bestens mit ihr befreundet war. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, ihr einfach so einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.
Elise sah sich freudig erregt in dem Raum um, der so aussah, als müsste man ihn als Salon bezeichnen, doch sie wurde enttäuscht. Der Terrier war nirgends zu sehen.
Clara hielt Elise fest am Halsband, für den Fall, dass er doch plötzlich hinter einem der schweren Vorhänge oder der großen, wertvoll aussehenden Bodenvase hervorsprang.
Normalerweise interessierte Elise sich nicht
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