Brudermord
hatte, weil sie alt war und bettlägerig und sich niemand um sie gekümmert hatte? Nein, das stimmte nicht. Eva Seitz hatte sich gekümmert: Sie hatte den Notarzt gerufen, hatte Fragen gestellt, war mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Und, das war entscheidend, Agnes Thiele hatte noch gelebt, als Eva am Morgen zu ihr gekommen war.
Sie war also nicht ermordet worden. Man konnte es Zufall nennen oder auch Schicksal, dass sie und Johannes Imhofen am selben Tag gestorben waren. Es führte zu nichts. Und doch blieb ein unangenehmer Nachgeschmack, den Clara mit einem Berg Muscheln in Weißweinsoße in dem Nobelitaliener, in dem sie mit ihrer Mutter saß, zu vertreiben versuchte Wenn man Ralph Lerchenberg noch dazunahm, waren innerhalb weniger Tage drei Menschen zu Tode gekommen, die alle mit Ruth Imhofen in Verbindung gestanden hatten.
Gerade sagte ihre Mutter nachdenklich: »Wenn man bedenkt, was mit dieser Frau geschehen ist, könnte man durchaus nachvollziehen, wenn sie es getan hätte …«
Clara hatte ihrer Mutter von den Vorgängen in der Klinik erzählt.
»Ich weiß«, gab sie leise zurück und pulte eine widerspenstige Venusmuschel aus ihrer Schale. »Ich weiß das alles, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass es nicht stimmt, es fehlt etwas. Ein Teil der Geschichte fehlt noch, und bevor ich diesen Teil nicht enträtselt habe, weigere ich mich, irgendwelche Schlüsse zu ziehen.«
Ihre Mutter lächelte. »Du hast als Kind schon gerne Detektiv gespielt. Weißt du noch? Die ganze Familie hatte tagelang blaue Finger, weil du unbedingt Fingerabdrücke nehmen musstest. Und einmal hast du den Nachbarn verfolgt, mit der Lupe und Vaters Hut …«
Clara verschluckte sich an der Muschel. »Aber das ist kein Spiel, Mama!«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Das ist es, was mir Sorgen macht. Du verrennst dich in etwas, was du nicht kontrollieren kannst. Wenn diese Frau tatsächlich ihren Bruder getötet hat, dann ist sie gefährlich. Und sie hat schon einmal getötet, das darfst du nicht vergessen. Wahrscheinlich hat sie dir die ganze Zeit etwas vorgespielt. Sie hat lernen müssen, sich zu verstellen, sich anzupassen. Und diese Zeit in der Klinik, diese Experimente haben mit Sicherheit gravierende Spuren in ihrer Persönlichkeit hinterlassen, die du gar nicht sehen kannst. Du weißt nicht, was sie tut, wenn du sie tatsächlich vor der Polizei finden solltest. Womöglich rastet sie aus.«
Ausrasten . Clara dachte unbehaglich an Lieselotte Winters Beschreibung von Ruths Verhalten gegenüber Udo Reimers, an Ruths ungeahnte Kraft und Schnelligkeit, mit der sie Clara im Polizeipräsidium beiseite gestoßen hatte und geflüchtet war.
Sie nickte nachdenklich und ungewöhnlich friedfertig. »Ich weiß. Ich weiß das alles.«
Sie seufzte.
Ausrasten . Das Wort hatte in Bayern noch eine ganz andere Bedeutung, an die Clara in dem Moment unvermittelt denken musste: Hergeleitet von Rast, rasten, bedeutete es so viel wie ausruhen, eine Pause machen. Ihre Großmutter hatte sich immer nach dem Mittagessen mit dem Küchenstuhl vor die Tür in die Sonne gesetzt und gemeint, sie müsse jetzt ein wenig ausrasten. Clara lächelte bei dem Gedanken an ihre ausrastende Oma, und das beklemmende Gefühl, das sie bei den mahnenden Worten ihrer Mutter überkommen hatte, verschwand.
Sie wechselte das Thema und fragte nach den Vorbereitungen für das Geburtstagsfest ihres Vaters.
Ihre Mutter verdrehte die Augen, aber lächelte dabei. Im Grunde genoss sie es, Feste zu organisieren. Wahrscheinlich wäre sie die geborene Charity-Queen der Highsociety geworden, wenn sie sich nicht für einen ehrbaren Beruf entschieden hätte. Nach einer detailreichen und ziemlich komischen Schilderung ihrer Nöte mit dem Catering-Service und der Druckerei, die es noch in keinem Jahr geschafft hatten, ihren Ansprüchen bezüglich der Gestaltung der Einladungen und Tischkarten gerecht zu werden, verdüsterte sich ihr Gesicht plötzlich.
»Heiko kommt nicht. Wusstest du das?«
Clara hob erstaunt die Augenbrauen. »Nein, wieso das denn?«
Heiko Jansen war Gesines Mann, Promizahnarzt und Vorzeigeschwiegersohn und ein Kotzbrocken, wie er im Buche stand, zumindest wenn es nach Clara ging.
»Er hat einen Kongress in Rio.«
»In Brasilien?«, staunte Clara. Anwaltsfortbildungen fanden höchstens in Baden-Baden oder Meran statt.
Thea Niklas zuckte mit den Schultern und nahm sich eine von Claras Zigaretten.
Mittlerweile wunderte sich Clara nicht mehr darüber.
Weitere Kostenlose Bücher