Brudermord
Sie nur weiter unsere Arbeit.«
Clara hatte plötzlich nicht einmal mehr die Kraft für eine spitze Erwiderung. Sie gab es auf, gegen die Resignation anzukämpfen, die Grubers Worte in ihr ausgelöst hatten.
Erschöpft starrte sie in ihren Becher. Er hatte recht. Wie sollten sie Selmany etwas nachweisen, ohne die Aussage von Agnes Thiele, ohne schriftliche Beweise, mit psychisch kranken Menschen als mögliche Zeugen, deren Aussagen Selmanys Verteidiger in der Luft zerreißen würden, sofern sie überhaupt aussagefähig waren. Blieben nur die Briefe und Ruths mögliche Aussage.
Doch Ruth war mordverdächtig, nach ihr wurde gefahndet, und bisher hatte sie über Selmany und ihren Aufenthalt in der Klinik gegenüber Clara nichts gesagt, was sich verwerten ließ. Wie sie überhaupt fast nichts von Bedeutung gesagt hatte, was Clara im Moment plötzlich auffiel. Alles, was Clara wusste, stammte aus Unterlagen oder aus Angaben Dritter. Ruth selbst hatte bisher im Grunde nur geschwiegen. Vielleicht hatte es keinen Zweck mehr weiterzukämpfen. Sie würde ja ohnehin nichts bewirken können.
Als hätte Gruber ihre Gedanken erraten, fragte er plötzlich: »Warum setzen Sie sich eigentlich so für diese Frau ein? Ich meine, es ist doch nicht üblich, dass Anwälte sich in diesem Maße für jemanden engagieren.«
Clara schwieg. Ihre Hand glitt unwillkürlich zu ihrer Hosentasche, wo sich der Zettel mit Pablos Adresse befand, und sie dachte an die Notlüge gegenüber dem Galeristen. »Ich bin Ruth.« Vielleicht war etwas Wahres dran gewesen an diesem spontan dahingesagten Satz. Vielleicht tat sie es für sich. Um ihren Gespenstern zu entkommen.
Doch Gruber war nicht der Richtige, um solche Fragen zu erörtern, deshalb zuckte Clara nur mit den Schultern und meinte: »Es ist eine Ungerechtigkeit, was mit dieser Frau geschehen ist. Jemand muss das aufdecken.«
»Und wenn sie Johannes Imhofen ermordet hat?«, fragte Gruber.
Clara sah ihn an: »Macht das einen Unterschied?«
Gruber kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen und starrte in die Sonne. »Für mich macht es durchaus einen Unterschied, ob wir es mit einer Mörderin zu tun haben oder nur mit einem unschuldigen Opfer.«
»Aber wenn sie eine Mörderin geworden ist, dann doch nur, weil sie zunächst ein unschuldiges Opfer war«, gab Clara heftig zurück.
Gruber schüttelte den Kopf. »Ruth Imhofen war niemals unschuldig. Sie vergessen, dass sie schon einmal getötet hat, damit hat die Geschichte ihren Anfang genommen.«
Clara zündete sich eine neue Zigarette an und dachte an ihre Pablo-Theorie, die sie dem Kommissar jedoch nicht auf die Nase binden wollte. Seine eingefahrene, sture Art belebte ihren Widerspruchsgeist und plötzlich wusste sie wieder, wofür sie sich einsetzte. »Ihr ist Unrecht widerfahren«, sagte sie leise. »Egal, was sie getan hat, sie hätte nie in dieser Klinik landen dürfen, man hätte nie diese Versuche machen dürfen, niemals hätte man sie vierundzwanzig Jahre einsperren dürfen!«
Gruber schwieg. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Vielleicht haben Sie ja recht. Aber meine Aufgabe ist es, den Mord an Johannes Imhofen aufzuklären. Und daran ändert die Geschichte mit Selmany und der Klinik nichts.«
»Heißt das, Selmanys Tat bleibt ohne Folgen?«
»Welche Tat?«, gab Gruber ironisch zurück, und sein Gesicht verzog sich zu der üblichen bitteren Grimasse. »Geben Sie mir eine Tat, und ich verfolge sie. Aber ich kann Ihnen eines schon versprechen, Sie werden sich verdammt schwer tun, etwas zu finden, um ihn festzunageln.«
Clara wandte sich ab. Sie wusste, dass Gruber recht hatte. Mit dem Tod von Agnes Thiele war die Wahrscheinlichkeit, die Machenschaften der Klinik aufzudecken, weiter geschwunden. Blieb nur noch die Möglichkeit einer Anzeige wegen Freiheitsberaubung, aber inwieweit war hier ein persönliches Verschulden von Dr. Selmany zu beweisen? Ruths Gutachten war von Dr. Thiele erstellt worden, und die Gerichte, die hier nicht nachgehakt hatten, die sämtliche Kontrollmöglichkeiten ignoriert hatten, trugen ebenso viel schuld wie die Klinikärzte mit ihren jahrelangen Gefälligkeitsgutachten. Wenn also nicht nachgewiesen werden konnte, dass Dr. Selmany, wie auch Dr. Thiele damals, ein eigenes Interesse gehabt hatten, Ruth in der Klinik lebendig zu begraben, wenn die Sache mit der weißen Kammer nicht bewiesen werden konnte, was blieb dann noch übrig? Schlamperei, Ignoranz, ein kaputtes Leben und nicht viel mehr. Und
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