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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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gar nicht so schlecht. Glühend heiß rann er seine Kehle hinunter und wärmte seinen Magen. Auch die Finger erwachten durch die Wärme der Tasse langsam aus der Erstarrung, er bewegte sie vorsichtig und verzog dabei das Gesicht vor Schmerzen. Er hätte sich besser um sie kümmern müssen. Als es noch nicht zu spät dafür war. Langsam zog er den Brief aus dem Umschlag, er war ein paar Monate später verfasst als der vorige, sie hatte in unregelmäßigen Abständen geschrieben, und jeder Brief, den er las, war schwerer zu ertragen. Er schloss gequält die Augen und vergaß seine entzündeten Gelenke, als er versuchte, sich gegen den Schmerz zu wappnen, den diese Zeilen erneut in ihm auslösen würden. Dann nahm er noch einen Schluck von dem Tee, der ihm unerwartet köstlich vorkam, und begann trotz aller Furcht zu lesen:
     
    Mein Geliebter,
    du kannst mich nicht hören, niemand kann mich hören. Ich schreie nicht mehr. Die Tage sind weiß. Einer nach dem anderen, weiß, weiß, weiß. Meine Montage waren immer stahlblau, die Dienstage ockergelb. Weißt du es noch? Aber wie war der Freitag? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Sie nehmen mir meine Bilder und nennen es Ruhe. 25 Milligramm Promethazin, 35 Milligramm Levomepromazin. Und noch einmal. »Das tut Ihnen gut …« Kannst du dich noch an meinen Freitag erinnern? Welche Farbe hatte er? Du wirst es wissen, mein Geliebter, so wie du alles immer gewusst hast. Bitte, bitte, vergiss es nicht, damit ich dich fragen kann, wenn wir uns wiedersehen …
     
    Er ließ den Brief fallen und griff nach der Tasse wie ein Verdurstender. »Er war grün«, flüsterte er. »Dein Freitag war grün.«
     

MÜNCHEN
    Zurück in der Kanzlei, umfing Clara die wohlige Wärme eines Schwedenofens, den sie und Willi in diesem Herbst hatten einbauen lassen, nachdem sie zuvor jeden Winter in der klammen Kälte der hohen Räume und undichten Fenster gezittert hatten. Linda hatte zwar zunächst ein wenig skeptisch die Stirn gerunzelt, als sie das gusseiserne Ding zum ersten Mal gesehen hatte, und es als wenig passend für eine Rechtsanwaltskanzlei befunden, mittlerweile war sie jedoch restlos von seinem Nutzen überzeugt. Elise lag in ihrer ganzen Pracht davor, die langen Beine ausgestreckt, den Kopf hingebungsvoll an den Holzkorb geschmiegt, und schnarchte. Dann und wann bewegte sich ihr Schwanz zuckend. Sie träumte vom Frühling in den Isarauen, von Mäuselöchern und Hundefreunden, mit denen man herumtollen konnte. Clara hängte ihren Mantel auf und machte sich einen Kaffee in der winzigen Küche im hinteren Teil des ehemaligen Buchladens. Dann setzte sie sich zu Elise auf den Boden und kraulte mit einer Hand ihre warmen Ohren, während sie vom Kaffee nippte. Elise grunzte wohlig und bezog diese Wohltat in ihre Träume mit ein. Ihr Schwanz klopfte rhythmisch auf die Holzdielen. Clara betrachtete Linda, die am Fenster saß und eifrig tippte. Sie hatte ihre glänzenden Haare aufgesteckt, und keine ungehorsame Strähne störte den Anblick ihres schön geschwungenen Nackens. Kleine Edelsteine blitzten an ihren Ohren, und sie trug einen eng geschnittenen Pullover in einem warmen Rot, passend zu ihrer grauen Hose. Clara seufzte. Sie mochte Linda. Sie war tüchtig, klug und nett. Aber in ihrer Gegenwart fühlte sich Clara immer hoffnungslos zerzaust und zerknautscht, zumal die junge Frau noch dazu keineswegs so wirkte, als ob sie täglich Stunden vor dem Spiegel verbrachte, um dieses Aussehen zu erreichen. »Naturschön« nannte Clara dieses Phänomen, das Linda im Gegensatz zu ihr immer wie frisch geduscht aussehen ließ, während sie sich selbst eher als »naturzerknittert« bezeichnet hätte. Sie stand auf. »Linda«, begann sie nachdenklich, »haben wir eigentlich noch die Zeitung vom Montag?«
    Linda hob den Kopf und nickte. »Natürlich. Ich bewahre sie jetzt immer auf, zum Anzünden.« Das morgendliche Einschüren des Ofens war zu Lindas edelster Pflicht erhoben worden. »Sie sind in der Kiste hinten.«
    Clara nickte. »Danke.« Sie stieg vorsichtig über Elise und ging zurück in die Küche, um die Zeitung zu holen. Die Überschrift auf der Titelseite stach ihr sofort ins Auge, und sie schüttelte unwillig den Kopf. Wie hatte sie nur nicht daran denken können, zwischen den Namen eine Verbindung herzustellen? Johannes Imhofen, fünfundfünfzig Jahre alt, war vor zwei Tagen in seiner Tiefgarage erschlagen worden. Seine Frau hatte ihn gefunden mit zertrümmertem Schädel, wie die Zeitung

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