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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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ringelte. Ruth Imhofen, die als schwer krank und unberechenbar galt, wird nach vierundzwanzig Jahren aus der Psychiatrie entlassen. Gerade mal drei Wochen später wird ihr Bruder erschlagen, und ihr behandelnder Arzt fährt gegen einen Baum. Sie begann zu frösteln: Das konnte kein Zufall sein.
     

CADAQUÉS
    Er war zurück in seine Kammer gegangen. Sein Kopf schmerzte, doch er war nicht betrunken. Schon lange fiel es ihm schwer, sich so zu betrinken, dass er vergessen konnte. Er wurde nur langsamer, müder, trauriger. Und heute war es nicht einmal das. Aber heute war es gut so. Er musste wach bleiben. Jetzt, wo er sich durchgerungen hatte anzufangen, wollte er alles lesen, jeden dieser Briefe, die er nie erhalten hatte, jedes Wort, jeden Gedanken. Er schaltete die kleine Lampe neben dem Bett an und setzte sich darunter auf den kalten Boden, um nicht einzuschlafen. Dann begann er wieder zu lesen:
     
    Mein Geliebter,
    ich habe mich getäuscht. Kannst du mir verzeihen? So viele Fehler, die wir begangen haben. Nein! Ich, ich habe sie begangen. Bitte vergib mir. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Wir müssen etwas unternehmen, egal, was es mich kostet. Doch er wird versuchen, es mit aller Macht zu verhindern. Und er ist mächtig. Ich spüre es jeden Tag. Bitte, bitte unternimm etwas. Tu, was du für richtig hältst, nimm keine Rücksicht…
     
    Der Mann saß noch immer unbeweglich auf dem kalten Boden vor dem Bett, und seine Hände zitterten so stark, dass er den Umschlag, der den nächsten Brief enthielt, nicht öffnen konnte. Kraftlos ließ er sie sinken. Er brauchte etwas zu trinken. Doch es gab nichts mehr. Die Bar von Miguel hatte längst geschlossen. Er wusste nicht, wie spät es war. Vielleicht kurz nach Mitternacht, vielleicht dämmerte aber auch schon bald der Morgen. Er hob den Kopf und richtete seinen Blick auf das Fenster gegenüber. Der Himmel über dem Meer war tiefschwarz, nicht einmal Sterne waren zu sehen. Er stand mühsam auf und streckte sich. Seine Kniegelenke knackten, und der Rücken war so steif, dass ihm fast schwarz vor den Augen wurde, als er sich aufrichtete. Fröstelnd schlurfte er zum Waschbecken in der Ecke neben der Tür und drehte den Wasserhahn auf. Er ließ Wasser in den Zahnputzbecher laufen und trank es mit großen Schlucken aus. Danach wurde ihm noch kälter. Seine Fingerspitzen waren taub, und er rieb sie aneinander, kratzte und biss auf ihnen herum, bis er einen vagen, dumpfen Schmerz fühlte, der ihm sagte, dass sie noch Teil von ihm waren. Dann warf er einen unschlüssigen Blick auf den Teekocher, den Rosa ihm vor ein paar Tagen zusammen mit ein paar Teebeuteln, Zucker und einer abgeschlagenen Tasse auf die kleine Kommode neben dem Fenster gestellt hatte. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, ihn damit dazu zu bewegen, einmal etwas anderes als Rotwein zu trinken. Ihre Hoffnung war jedoch vergeblich gewesen. Er mochte keinen Tee.
    Sie dagegen, sie hatte ihn gerne getrunken damals, chinesischen Tee aus feinen, fast durchsichtigen Porzellantassen, Erbstücke irgendeiner Tante aus dieser gottverdammten Familie. Einmal hatte sie eine dieser Tassen nach ihm geworfen, mit voller Wucht. Er hatte sich gerade noch ducken können. Die Tasse war gegen die Wand geprallt und zerschellt. Weinend hatte sie danach die Scherben aufgesammelt und ihn hinauswerfen wollen, als ob es seine Schuld gewesen wäre, dass die Tasse zu Bruch gegangen war. Er hatte sich aber nicht hinauswerfen lassen, jenes Mal nicht, war stehengeblieben wie ein Baum, während sie mit ihren Fäusten auf ihn einschlug. Es hatte nicht einmal wehgetan. Irgendwann hatte er ihre Hände einfach festgehalten, hatte sie festgehalten, diese magere, wilde Person, und ihr Schluchzen war weniger und weniger geworden.
    Er griff nach dem Teekocher und füllte ihn. Während das Wasser zu kochen begann, trat er ans Fenster und sah hinaus. Nichts deutete darauf hin, dass der Morgen bald kommen würde. Dass es überhaupt noch einen Morgen gab. Die Nacht war tintenschwarz. Schritte näherten sich unterhalb, klapperten eilig über das Pflaster und verklangen. Irgendwo bellte ein Hund; drängend, aufgeregt, doch er erhielt keine Antwort. Das Wasser kochte, und er goss sich etwas davon in die Tasse, dann hängte er einen Teebeutel hinein. Mit dem fertigen Tee ging er zurück zu seinem Platz, wo die Briefe auf ihn warteten. Bevor er sich setzte, zog er sich die Decke vom Bett herunter und wickelte sich darin ein. Er nippte an dem Tee und fand ihn

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