Brudermord
Fingern durch die Haare und stand vorsichtig auf, ohne sein Bein zu belasten.
Clara seufzte. »Um dich mache ich mir dabei am wenigsten Sorgen.«
Gesine erwartete sie in der Küche. Sie hatte ihren eleganten Kamelhaarmantel abgelegt und hantierte geschäftig mit der Kaffeemaschine herum. Clara, die hastig ihre alte Jeans und ihren grünen Lieblingspullover übergezogen hatte, musterte deprimiert das edle Erscheinungsbild ihrer älteren Schwester. Sie trug ein flauschig weiches Twinset in Hellgrau, dem Anschein nach aus Kaschmirwolle, dazu schwarze, enge Hosen und flache Stiefel aus weichem Leder. Gesine war achtundvierzig, wirkte aber nicht zuletzt wegen ihrer perfekten Figur wie höchstens vierzig, und sie war gepflegt vom Scheitel bis zur Sohle. Claras Laune sank auf den Nullpunkt, als sie ihr zusah, wie sie mit flinken Bewegungen alle ihre Schränke öffnete und nach dem Geschirr suchte. »Der wütende Herr aus deinem Schlafzimmer frühstückt mit, nehme ich an?«, sagte sie leichthin und nahm drei Tassen aus dem Fach.
Clara schloss für einen Moment die Augen und fragte sich, womit sie das verdient hatte. »Der Herr nimmt drei Spiegeleier mit Speck und Toast«, bestellte sie ironisch.
Gesine unterbrach ihre Vorbereitungen einen Augenblick und verdrehte die Augen. »Himmel, Clara, ich konnte doch nicht ahnen, dass du Besuch hast! Mutter hat mit keinem Ton erwähnt, dass du …«
Clara schüttelte ungeduldig den Kopf und nahm ihr die Tassen ab. »Ist schon gut.« Sie verteilte sie auf dem kleinen Tisch und ging ins Wohnzimmer, um einen dritten Stuhl zu holen. Als Mick in die Küche kam, unrasiert und mit vom Duschen noch feuchten Haaren, stellte Clara die beiden einander vor, dann hielt sie für einen Augenblick den Atem an.
Gesine lächelte auf eine Art und Weise, wie sie Clara nur allzu gut kannte. Ihr ebenmäßiges Gesicht schien zu strahlen, als ob ihr noch nie eine größere Freude zuteil geworden wäre, als an diesem Morgen Herrn Hamilton zu begegnen. Doch wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass ihre Augen nicht mitstrahlten, sie blieben unbeteiligt hinter einer Maske von professioneller Herzlichkeit. Gesas Kundengesicht, nannte Clara dies, und sie konnte förmlich sehen, was sich dahinter im Kopf ihrer Schwester abspielte. Sie beschloss, es vorerst zu ignorieren, und schenkte sich Kaffee ein.
Mick war höflich, aber ziemlich wortkarg und beteiligte sich kaum an dem Gespräch. Da Clara weder Lust noch Talent zu höflichem Smalltalk hatte, verlief das Frühstück in angespanntem Schweigen.
Nach einer knappen halben Stunde stand Mick auf. »Ich muss los«, sagte er, und Clara verspürte Bedauern, gemischt mit Erleichterung, für die sie sich sofort schämte. Sie begleitete ihn zur Tür. »Tut’s noch weh?«, fragte sie mit einem Blick auf sein Bein. Er schüttelte den Kopf und gab ihr einen Kuss, von dem Clara an diesem Morgen gerne noch mehr gehabt hätte. Dann war er weg.
Clara blieb noch einen Augenblick im Treppenhaus stehen und kämpfte mit dem Impuls, ihm einfach nachzulaufen, ihre Schwester in der Küche sitzen zu lassen und den Tag blauzumachen. Dann schloss sie seufzend die Tür und ging zurück in die Küche. Gesine schenkte sich gerade Kaffee nach. Clara ließ sich auf den Stuhl fallen und griff nach dem letzten Croissant. Elise hatte sich nach ihrer Attacke auf Mick hinter das Sofa im Wohnzimmer verkrochen und sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Clara fand, sie sollte dort ruhig noch ein bisschen schmoren, und biss genussvoll in den weichen, buttrigen Blätterteig.
Gesine hob den Blick von ihrer Kaffeetasse und musterte Clara einige Augenblicke lang wie ein unbekanntes Insekt, das man gerade erst entdeckt hat und über das man ratlos nachgrübelt, welcher Gattung es angehören könnte. Dann sagte sie kühl: »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Clara verschluckte sich. »Was?«
»Na, dieser Typ. Ist das einer von Seans Freunden?«
»Sag mal, spinnst du? Sean ist gerade mal zwanzig!«
»Na, recht viel älter scheint der Knabe ja wohl auch nicht zu sein.« Gesine schmierte sich eine halbe Semmel und nahm einen Teelöffel voll Marmelade.
Clara spürte, wie sie rot wurde. Mick war fast neun Jahre jünger als sie, und das war einer der wunden Punkte in ihrer gerade mal begonnenen Beziehung. Doch ihn altersmäßig auf die Stufe ihres Sohnes zu stellen, war schon ein starkes Stück. »Und wenn es so wäre, ginge es dich auch nichts an«, fauchte sie giftig.
Gesine biss in ihre
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