Brudermord
sagen Sie es uns. Wir können dazu auch rausgehen.«
»Aber im Fernsehen gibt es immer eine Scheibe …«
»Wir sind jetzt aber nicht im Fernsehen«, gab Gruber ungeduldig zurück, und die Frau warf ihm einen empörten Blick zu.
»Also, wenn ich das gewusst hätte, dann wäre ich nicht gekommen. Man riskiert ja Kopf und Kragen, wenn man der Polizei helfen will!«
Gruber seufzte. »Wenn Sie sich jetzt bitte die Personen ansehen würden, Frau …«
»Ja, ja, ist schon gut«, unterbrach ihn die Frau hastig und ging einen kleinen Schritt auf die Reihe der wartenden Frauen zu. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie eine nach der anderen, bei Ruth blieb sie einen Moment lang stehen. Ruth Imhofen hob langsam den Kopf und erwiderte den Blick der Frau.
Hastig wandte diese sich ab. »Ja, also, was soll ich jetzt machen?«
»Haben Sie die Person erkannt, die Sie am Sonntag vor der Villa des Herrn Imhofen gesehen haben?«, fragte Kommissarin Sommer geduldig.
Aufgeregt wandte die Zeugin ihren Kopf zwischen den Beamten und Ruth Imhofen hin und her. »Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass hier keine Scheibe ist, wer schützt mich denn jetzt vor dieser Irren?«, schimpfte sie.
»Es gibt keinen Grund, weshalb Sie sich fürchten müssten«, versuchte Gruber sie zu beschwichtigen.
»Ha! Kein Grund! Das sagen Sie! Und wenn ich morgen erschlagen im Bett liege, was sagen Sie dann?«
Gruber schüttelte entnervt den Kopf. »Kommen Sie mit nach draußen.«
»Moment!« Jetzt meldete sich Clara zu Wort. »Wenn die Zeugin tatsächlich jemanden gesehen hat, dann soll sie es jetzt und hier sagen. Wahrscheinlich hat sie auch nur letzte Woche die Zeitung gelesen und glaubt, sich an jemanden zu erinnern, der der dort abgebildeten Person ähnlich sieht. Sie ist von der Berichterstattung beeinflusst, das ist doch offensichtlich.« Clara wandte sich jetzt direkt an die Frau, die sie misstrauisch musterte: »Wie kommen Sie denn darauf, dass es sich hier um eine irre Mörderin handelt, wie Sie sich ausdrücken?«
»Frau Anwältin, wir sind hier nicht im Gerichtssaal«, wandte Gruber wütend ein. Die Sache drohte ihm zu entgleiten.Warum hatte er sich nur von seinem Übereifer leiten lassen und nicht wie sonst üblich eine Videoaufzeichnung für die Zeugin vorbereitet. So wie die Sache sich entwickelte, konnte man die Aussage der Zeugin reinweg vergessen. »Sparen Sie sich Ihr Plädoyer für den Richter …«, er konnte seinen Satz nicht beenden, denn jetzt ging die Zeugin empört auf Clara los. »Kommen Sie mir bloß nicht so! Jeder weiß doch, dass das die Verrückte ist, die damals den jungen Mann erschlagen hat. Und jetzt hat sie ihren Bruder erledigt.« Furchtsam sah sie sich um.
Ruth Imhofen starrte sie an. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Es sah aus, als ob sie eine Beschwörung oder einen Fluch murmelte, und Clara brachte sogar ein gewisses Verständnis für die Angst der Zeugin auf. Es sah wirklich unheimlich aus.
»Schauen Sie sich sie doch an, sie ist verrückt!« Die Stimme der Frau überschlug sich, während sie mit dem Finger auf Ruth deutete.
»Wollen Sie damit sagen, dass die zweite Person von rechts die Frau ist, die Sie am Sonntagnachmittag vor der Villa Imhofen gesehen haben?«, versuchte Kommissar Gruber, der Veranstaltung einen letzten Rest Amtlichkeit zurückzugeben.
Die Frau starrte ihn an. »Ja, wovon rede ich denn die ganze Zeit, Himmelherrgottsakrament?«
Als Kommissarin Sommer die Zeugin nach draußen bugsiert hatte, erlaubte sich Clara ein winziges Lächeln in Ruths Richtung. Ruths Flüstern verstummte. Sie war bleich, und ihre Augen wirkten einmal mehr wie schwarze Löcher in ihrem bewegungslosen Gesicht. Ihre Hände waren an die Wand gepresst, als tasteten sie nach einem Ausgang. Clara winkte Ruth zu sich her. Nur zögernd lösten sich ihre Finger, und sie setzte sich in Bewegung.
»Tolle Zeugin! Kompliment!«, wandte sich Clara an Kommissar Gruber, der sein Gesicht zu einer finsteren Grimasse verzogen hatte. »Da hätten Sie jeden bringen können, der einen Blick in die Zeitung geworfen hat. Sicher kann sich im Nachhinein die halbe Stadt daran erinnern, die irre Mörderin am Sonntag irgendwo in der Nähe der Villa gesehen zu haben.« Sie nahm ihre Tasche und ihren Mantel und nickte Gruber zu. »Das war’s dann wohl?« Sie wandte sich zum Gehen.
»Nicht so schnell, Frau Anwältin.« Gruber versperrte ihr den Weg. »Wir müssen Ihre Mandantin trotzdem noch befragen. Wir gehen nach wie vor
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