Bruderschaft der Unsterblichen
sollte ich mir also darauf etwas einbilden? Was mich eingebildet werden ließ, war meine Abstammung, das Wissen, daß in mir das Blut von He l den des Unabhängigkeitskrieges floß, von Senatoren und Kongreßabgeordneten, von Diplomaten und von den großen Finanzgenies des neunzehnten Jahrhunderts. Ich war eine wandelnde Gedenktafel. Davon abgesehen g e fielen mir auch meine Körpergröße, meine Kraft und meine Gesundheit – ein gesunder Geist in einem gesu n den Körper, alle Vorteile, die die Natur einem mitgeben kann. Außerhalb des Campus lag eine Welt voller Farb i ger und Juden, Spastiker und Neurotiker, Homosexueller und anderer Störenfriede. Aber ich hatte vom Spielaut o maten des Lebens eine Goldene Serie bekommen, und ich war stolz auf dieses Glück. Außerdem bekam ich jede Woche einhundert Dollar zugewiesen, was ganz günstig war, und ich bin mir damals nicht bewußt geworden, daß die meisten Achtzehnjährigen mit erheblich weniger au s kommen mußten.
Und dann traf ich auf Oliver. Ich stellte fest, daß der Computer mir zu einem neuen Glückslos verholfen hatte, denn er hätte mir ja auch einen seltsamen Vogel, einen Verrückten oder einen mit einer zerschmetterten, neid i schen, verbitterten Seele zuweisen können. Aber Oliver wirkte durch und durch normal. Ein gutaussehender, wohlgenährter Medizinstudent aus den wilden Weiten von Kansas. Er hatte meine Größe – vielleicht noch ein paar Zentimeter mehr, und das war sehr gut so; mit kle i nen Menschen komme ich nicht zurecht. Oliver war nach außen hin unkompliziert. Über fast alles konnte er l a chen. Einer, mit dem man leicht zurechtkommt. Beide Eltern tot, er bekam ein volles Stipendium für diese A n stalt. Ich bemerkte rasch, daß er überhaupt kein Geld b e saß, und fürchtete einen Moment lang, das könne U n stimmigkeiten zwischen uns heraufbeschwören. Aber nein, er verstand die Situation sehr gut. Geld schien ihn gar nicht zu interessieren, solange er nur genug hatte, um Nahrung, Unterkunft und Bekleidung zu bezahlen, und dafür hatte er genug – eine kleine Erbschaft, der Erlös aus dem Verkauf der Familienfarm. Das dicke Bündel Geld, das ich immer mit mir führte, erschreckte ihn nicht, es amüsierte ihn nur. Er erzählte mir schon am ersten Tag, daß er plante, in die Basketball-Mannschaft zu g e hen, und ich dachte, er hätte sein Stipendium als Sportler bekommen, aber da lag ich falsch: Er mochte Basketball, er nahm ihn sogar sehr ernst, aber er war hierhergeko m men, um zu lernen. Und das war auch der eigentliche Unterschied zwischen uns, nicht die Sache mit Kansas oder mein Geld, sondern diese Vorstellung seiner A b sichten. Ich ging aufs College, weil alle männlichen Mi t glieder meiner Familie nach der Schule und vor dem E r wachsensein das College besuchen. Oliver war hier, um aus sich eine wilde Geistmaschine zu machen. Er hatte damals – und hat ihn immer noch – einen kolossalen, unglaublichen und überwältigenden inneren Antrieb. Hin und wieder erwischte ich ihn in jenen ersten Wochen o h ne Maske; die sonnige Miene des Farmjungen ve r schwand, der Ausdruck wurde hart, die Kiefer waren aufeinandergepreßt, die Augen strahlten in kaltem Glanz. Sein Eifer konnte erschreckend sein. In allem mußte er perfekt sein. Er hatte einen Notendurchschnitt von „sehr gut“ und stand immer mit an der Spitze in unserer Kla s se. Er spielte im Erstsemester-Basketball-Team mit und sprengte im ersten Spiel den Korbrekord; täglich blieb er die halbe Nacht auf, um zu studieren, er schien nie zu schlafen. Trotzdem schaffte er es, menschlich zu wirken. Er trank viel Bier, konnte unbegrenzt bumsen (wir gi n gen immer zusammen auf Tour), und er spielte vorzü g lich Gitarre. Zum Maschinenwesen wurde Oliver nur, wenn es um Drogen ging. In der zweiten Woche am Co l lege besorgte ich ausgezeichnetes marokkanisches Hasch, aber er wollte absolut nicht. Und erklärte nur, er habe siebzehneinhalb Jahre damit verbracht, seinen Kopf zu eichen, und jetzt habe er nicht vor, das alles wieder durcheinanderzubringen. So weit ich das beurteilen kann, hat er in den vier Jahren, die seitdem vergangen sind, noch nicht an einem Joint gezogen. Er toleriert unseren Drogenkonsum, aber er will nichts davon abhaben.
Im Frühling unseres zweiten Studienjahres erwarben wir Ned. Oliver und ich hatten unser Zimmer in diesem Jahr wieder genommen. Ned besuchte zwei Seminare, in denen auch Oliver saß: Physik, die Ned benötigte, um seinen naturwissenschaftlichen
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