Bruderschaft der Unsterblichen
Pflichtveranstaltungen nachzukommen, und Literaturwissenschaft, Olivers ge i steswissenschaftliche Pflichtveranstaltung. Oliver hatte einige Schwierigkeiten mit Joyce und Yeats, und Ned ha t te etliche Schwierigkeiten mit der Quantentheorie und der Thermodynamik, also entwickelten die beiden eine gege n seitige Nachhilferegelung. Bei den beiden zogen sich wirklich Gegensätze an. Ned war klein, sprach leise, war mager, hatte große, sanfte Augen, und er bewegte sich sanft. Ein Bostoner Ire von streng katholischer Herkunft, erzogen in kirchlichen Schulen. Er trug immer noch ein Kruzifix, als wir schon im dritten Semester waren, manchmal ging er sogar in die Messe. Er beabsichtigte Dichter und Kurzgeschichtenautor zu werden. Nein, bea b sichtigen ist nicht das richtige Wort. Wie Ned einmal e r klärte, beabsichtigen Leute mit Talent nicht, Autoren zu werden. Entweder man ist es, oder man ist es nicht. Die, die Talent haben, beabsichtigen zu schreiben. Ned schrieb immer. Und tut das immer noch. Er trägt einen Spira l block mit sich und notiert alles, was er hört. Eigentlich bin ich ja der Meinung, daß seine Kurzgeschichten Scheiße sind und seine Gedichte nutzlos. Aber ich räume ein, daß dafür auch mein Geschmack verantwortlich sein kann und nicht sein Talent, denn die gleiche Meinung hege ich über viele Autoren, von denen die meisten berühmter sind als Ned. Zumindest arbeitet er ja an seiner Begabung.
Er wurde für uns so etwas wie ein Maskottchen. Ned hing immer enger mit Oliver zusammen als mit mir, aber ich hatte nichts gegen seine Gesellschaft einzuwenden; er war etwas ganz anderes, jemand, der zu allem im Leben eine andere Einstellung hatte. Seine heisere Stimme, se i ne traurigen Hundeaugen, seine verrückten Kleider (er trug oft Roben, ich glaube, weil er damit vorgeben wol l te, es hätte ihn schließlich doch zum Priestertum ve r schlagen), seine Gedichte, seine eigentümliche Form von Sarkasmus, die Kompliziertheit seines Verstands (jede Sache sah er von zwei oder drei Seiten und schaffte es so, gleichzeitig an alles und an nichts zu glauben) – das alles faszinierte mich. Wir müssen ihm genauso fremdartig erschienen sein wie er uns. Er hing so oft bei uns, daß wir ihn einluden, im dritten Jahrgang mit uns zusammenz u wohnen. Ich weiß nicht mehr, wessen Idee das gewesen ist, Olivers oder meine. (Neds?)
Damals wußte ich nicht, daß Ned andersherum ist. Oder besser, daß er schwul ist, um den Ausdruck zu g e brauchen, den er vorzieht. Das Problem daran, ein WASP-Leben zu führen, ist, daß man nur einen kleinen Ausschnitt vom wirklichen Leben mitbekommt, und man erwartet nie im geringsten, daß das Unerwartete eintritt. Ich wußte natürlich, daß es Homos gab. Es gab sie auch bei uns in Andover. Sie bewegten beim Gehen die Elle n bogen, kämmten sich oft die Haare und sprachen einen besonderen Tonfall, diesen universellen Fagott-Tonfall, den man von Maine bis Kalifornien hören kann. Sie lesen andauernd Proust und Gide, und manche von ihnen tr a gen einen BH unter dem T-Shirt. Aber Ned sah nicht wie eine Tunte aus. Und ich war auch nicht so beschränkt zu glauben, daß jedermann, der Gedichte schrieb (oder las!), ein Schwuler sein müsse. Nun, er hatte eine Beziehung zur Kunst, er war schmal, und er wirkte überhaupt nicht männlich; aber man erwartet von einem, der nur hunder t fünfzehn Pfund wiegt, ja auch nicht, daß er Footballer ist. (Er ging fast jeden Tag schwimmen. Wir schwimmen natürlich nackt im Collegebad, und für Ned muß das wohl wie Weihnachten und Geburtstag zusammen gew e sen sein, aber damals dachte ich noch nicht an so etwas.) Eines fiel mir auf – er ging nicht mit Mädchen aus. A l lerdings ist das ja für sich genommen noch keine Sünde. Eine Woche vor Semesterschluß vor zwei Jahren vera n stalteten Oliver und ich und noch ein paar andere Jungen so etwas wie eine Orgie in unserem Zimmer. Ned war auch da, und er schien gar nichts gegen die Sache zu h a ben. Ich sah, wie er ein Mädchen vögelte, eine picklige Kellnerin aus der Stadt. Und erst viel später fiel mir fo l gendes auf: Erstens, Ned mochte eine Orgie ganz nüt z lich als Material für seine Schriftstellerei empfinden, und zweitens, er verschmäht die Mösen eigentlich gar nicht, er hat eben nur Jungen lieber.
Ned bescherte uns Eli. Nein, sie schliefen nicht z u sammen, sie waren Freunde. Und das war auch gleich das erste, was Eli mir sagte: „Solltest du da noch Unkla r heiten haben, ich bin heterosexuell.
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