Bruderschaft der Unsterblichen
Mastlichter. Nach wenigen weiteren Minuten endet das Ödland; wir haben Tempe verlassen, Phoenix erreicht und befinden uns jetzt auf der Van-Buren-Straße. Geschäfte, Häuser, Motels. „Fahr weiter, bis wir im Zentrum sind“, sagte Timothy. Anscheinend besitzt seine Familie eine größere Beteiligung an einem der Motels in der City; dort wollen wir absteigen. Noch zehn Minuten Fahrt durch eine G e gend voller Secondhand-Buchläden und Mietgaragen (fünf Dollar die Nacht), dann sind wir in der City. Wo l kenkratzer, zehn oder zwölf Stockwerke: Banken, ein Zeitungshaus, große Hotels. Die Hitze ist unglaublich, fast vierzig Grad. Jetzt haben wir erst Ende März; wie mag das Wetter erst im August sein? Hier steht unser M o tel. Vor dem Eingang eine Kamelstatue. Eine große Pa l me. Eine enge, wenig freizügige Eingangshalle. T i mothy meldet uns an. Wir nehmen eine Suite. Hinten, zweiter Stock. Ein Swimmingpool. „Wer hat Lust zu schwi m men?“ fragte Ned. „Und danach ein mexikan i sches Abendessen“, sagte Oliver. Unsere Gehirne quellen über. Immerhin sind wir jetzt in Phoenix. Haben fast u n ser Ziel erreicht. Morgen schwärmen wir nach Norden aus, um die Zufluchtsstätte der Hüter der Schädel zu fi n den.
Jahre scheinen seit dem Beginn unserer Unterne h mung vergangen zu sein. Der kurze, unauffällige, zufällig entdeckte Hinweis in der Sonntagszeitung. Ein „Kloster“ in der Wüste, nicht weit von Phoenix entfernt, wo zwölf oder fünfzehn „Mönche“ eine sehr eigene Form sog e nannten Christentums praktizieren. „Sie kamen vor ung e fähr zwanzig Jahren aus Mexico, und man nimmt an, daß sie zur Zeit von Cortez aus Spanien nach Mexico g e kommen sind.
Sie versorgen sich selbst, bleiben lieber unter sich und ermutigen Besucher nicht, zu kommen. Trotzdem bege g nen sie jedem herzlich und gesittet, der sich in ihre isolie r te, von Kakteen umringte Zuflucht verirrt. Der Baustil ist merkwürdig, eine Kombination aus mittelalterlichem Christentum und etwas, das aztekischen Motiven ähnelt. Das vorherrschende Symbol, welches dem Kloster ein eigentümliches, sogar groteskes Erscheinungsbild gibt, ist der menschliche Totenschädel. Überall Schädel, grinsend und düster, als Relief oder in sonstigen dreidimensionalen Darstellungen. Ein langer Fries von Schädeldarstellungen scheint nach dem Muster hergestellt worden zu sein, das man in Chichen Itzá auf Yukatán finden kann. Die Mö n che sind hager und kräftig, ihre Haut ist gebräunt und g e härtet von der Wüstensonnenstrahlung und dem Wind. Seltsam, sie wirken gleichzeitig alt und jung. Der einzige, mit dem ich sprechen konnte, weigerte sich, seinen N a men zu nennen, mochte dreißig oder dreihundert Jahre alt sein; es war unmöglich, dies zu entscheiden …“
Nur durch Zufall entdeckte ich diese Meldung, als ich die Reisebeilage der Zeitung überflog. Nur ein Zufall, daß etwas von dieser merkwürdigen Sache – ein Fries voller Schädel, alte und doch junge Gesichter sich in meinem Bewußtsein hielt. Und genauso der reine Zufall, daß ich einige Tage später auf das Manuskript des B u ches der Schädel in der Universitäts-Bibliothek stieß.
Unsere Bibliothek hat ein Archiv, ein Lagerhaus voller auserlesener Stücke und Kuriosa, Manuskriptreste, Ap o kryphen und Raritäten, die bisher niemand einer Überse t zung für wert befunden hatte, geschweige denn einer Entschlüsselung, Klassifizierung oder Analyse. Ich gla u be, jede größere Universität verfügt über ein ähnliches Repositorium, angefüllt mit einer Vielfalt von Dokume n ten, die durch Stiftungen oder eine Ausgrabungsexpedit i on in ihren Besitz gelangten und nun auf eine gelegentl i che (in zwanzig Jahren, in fünfzig?) genaue Unters u chung durch die Gelehrten warten. Unser Repositorium ist weiträumiger angelegt als die meisten anderen, vie l leicht, weil drei Generationen von Bibliothekaren hun g rig und habsüchtig für ein Imperium gesammelt haben. Sie häuften die Schätze des Altertums schneller an, als ein ganzes Bataillon Gelehrter mit dem Zuwachs fertig werden konnte. In einem solchen System werden b e stimmte Sachen ungeordnet beiseite gelegt, hinwegg e schwemmt vom Strom der Neuerwerbungen. Bald sind sie verborgen, vergessen und verwaist. Deshalb befinden sich bei uns ganze Regale, die vollgestopft sind mit s u merischen und babylonischen Keilschrift-Dokumenten, die meisten von ihnen wurden während der gefeierten Ausgrabungen 1902-1905 in Mesopotamien zutage g e
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