Bruderschaft der Unsterblichen
fördert; wir besitzen tonnenweise ungeöffnete Papyru s rollen aus den späteren ägyptischen Dynastien; kiloweise liegt dort Material aus den Synagogen des Irak, nicht nur Thorarollen, sondern auch Hochzeitsurkunden, Gericht s urteile, Pachtbriefe und Gedichte; wir verfügen über b e schriftete Stöcke aus Tamariskenholz aus den Höhlen von Tun-huang, ein vernachlässigtes Geschenk von A u rel Stein, das schon ziemlich lange dort liegt, wir besi t zen Truhen voller Gemeindeverzeichnisse aus den mief i gen Urkundenräumen der alten Yorkshire-Burgen; wir haben Bruchstücke und Streifen der präkolumbianischen mexikanischen Handschriften, stapelweise finden sich bei uns Hymnen und Meßgesänge von Klöstern in den Pyrenäen aus dem vierzehnten Jahrhundert. Wer weiß, vielleicht enthält unsere Bibliothek auch den Schlüssel, um die Geheimnisse der Schriften aus Mohenjo-daro zu enträtseln, oder sie führt das Lehrbuch für etruskische Grammatik von Kaiser Claudius, unkatalogisiert mögen dort die Memoiren von Moses oder das Tagebuch von Johannes dem Täufer zu finden sein. Diese Entdecku n gen werden, wenn überhaupt, von anderen Bummlern in den dämmrigen, staubigen Lagertunneln unter dem Hauptgebäude der Bibliothek gemacht werden. Aber ich bin derjenige gewesen, der das Buch der Schädel gefu n den hat.
Gesucht habe ich nicht danach. Ich hatte ja noch nie davon gehört. Unter der Hand verschaffte ich mir die Erlaubnis, die Lagergewölbe zu betreten, um eine Sam m lung von Manuskripten katalanischer mystischer Verse aus dem dreizehnten Jahrhundert zu suchen, die wah r scheinlich der Antiquitätenhändler Jaime Maura Gudiol aus Barcelona 1893 vermacht hatte. Professor Vasquez Ocaña, mit dem ich bei einigen Übersetzungen aus dem Katalanischen zusammenarbeiten sollte, hatte von dem Schatz von Maura von seinem Professor vor dreißig oder vierzig Jahren gehört. Und er konnte sich vage daran e r innern, sich mit ein paar dieser Schriften befaßt zu haben. Während ich die abgegriffenen Katalogkarten, die noch mit der Sepiatinte des neunzehnten Jahrhunderts b e schriftet waren, durchsuchte, hatte ich bald insoweit E r folg, als ich herausfand, wo in diesen Lagergewölben die Maura-Sammlung zu finden sein sollte. Ich begab mich auf die Suche. Ein dunkler Raum; versiegelte Kisten; unübersehbare Mengen von Aktenordnern; ich hatte kein Glück. Hustend und schluckend weiter durch den Staub. Die Finger schwarz, das Gesicht verschmiert. Noch eine Kiste wird untersucht, dann geben wir’s auf. Und dann: ein fester, roter Papierband, der ein hübsch illustriertes Manuskript auf Blättern aus feinstem Schreibpergament enthielt. Reich ausgeschmückter Titel: Liber Calvarium. Das Buch der Schädel. Ein Titel, der einen nicht losläßt, geheimnisvoll und romantisch. Ich schlug es auf. Elega n te, einzigartige Buchstaben in einer klaren, festen Han d schrift aus dem zehnten oder elften Jahrhundert. Die Sprache war nicht direkt Latein, sondern eher ein latein i siertes Katalanisch, das ich automatisch übersetzte: Ve r nehmt dies, o Hochwohlgeborener: Wir bieten Euch das ewige Leben an. Die verdammt seltsamste Einleitung, die mir je untergekommen war. Hatte ich mich vertan? Nein. Wir bieten Euch das ewige Leben an. Auf der Seite b e fand sich ein Textstück, der Rest war nicht so einfach zu entziffern wie die Einleitung. Entlang dem unteren Se i tenrand und auf der linken Hälfte befanden sich acht wunderbar gemalte menschliche Schädel. Jeder einzelne wurde vom nächsten durch eine Säulenkette und ein r o manisches Gewölbe getrennt. Nur ein Schädel besaß noch seinen Unterkiefer. Einer war seitlich umgekippt. Aber alle grinsten, und das Böse lauerte in ihren dunklen Augenhöhlen; Schädel nach Schädel schien vom Grab aus zu sagen: Es würde dir guttun, das zu lernen, was wir bereits entdeckt haben.
Ich ließ mich auf einer Kiste, die alte Pergamente en t hielt, nieder und blätterte das Manuskript rasch durch. Zwölf Seiten oder so und alle mit grotesken Grabsymb o len verziert – gekreuzte Schenkelknochen, umgekippte Grabsteine, ein körperloses Becken oder zwei, und Sch ä del, Schädel, Schädel, Schädel. Den Text an Ort und Ste l le zu übersetzen war mir unmöglich; viele Wörter waren zu obskur, waren weder Latein noch Katalanisch, sondern irgendeine verträumte, zuckende Zwischenspr a che. Doch die Essenz des Textes wurde mir schnell klar. Er war an irgendeinen Prinzen adressiert, stammte vom Abt eines Klosters und
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