Bruderschatten
zwischen neun und halb zehn mit nassen Haaren nach Hause zurück, hatte gemeinsam mit Henny gefrühstückt und war dann für Besorgungen mit dem Fahrrad in die Kaufhalle gefahren.
Gegen zwölf war sie zu Leo gefahren, um noch einmal mit ihm zu reden. Gegen halb fünf hörte Thor in seiner Firma von einem Arbeitskollegen, dass Leo Charles erschossen hätte. Henny erfuhr es erst gegen fünf von Thor, machte sich deshalb jedoch keine Sorgen um Claudia, da diese nach ihrem Treffen mit Leo wieder ins Schwimmbad fahren wollte. Nur wurde sie dort nie gesehen.
Die polizeilichen Ermittlungen ergaben später, dass unsere Nachbarin von gegenüber Claudia gegen halb zwei gesehen hatte. Völlig aufgelöst hätte sie ihr Fahrrad von unserem Grundstück weggeschoben. Die Nachbarin erinnerte sich deshalb so gut daran, weil der Saum von Claudias Sommerkleid hinten in ihrem Slip steckte und sie überlegte, es ihr aus dem Fenster zuzurufen. Aber dann dachte sie, das Mädchen würde es von allein merken. Außerdem hatte sie beobachtet, wie Charles ankam und Claudia mit einem Nicken grüßte, sie darauf aber nicht reagierte, sondern sich aufs Fahrrad setzte und davonfuhr.
Gegen halb drei wurde Claudia von unserem ehemaligen Mathelehrer hinter der Badeanstalt gesehen. Sie stand ans Geländer gelehnt auf der Brücke, und sie grüßten einander. Er hatte den Eindruck, dass sie auf jemanden wartete, denn sie sah mehrmals auf die Uhr.
Es war das letzte Mal, dass jemand sie lebend sah. Zwei Tage später fand man ihre Leiche.
Eddie, so hatte die Nachbarin bestätigt, war an diesem Tag früher nach Hause gekommen. Außerdem hatte sie einen lauten Knall gehört. An die Uhrzeit erinnerte sie sich nicht, aber es war irgendwann am frühen Nachmittag. Allerdings hatte sie geglaubt, es sei nur wieder der Auspuff irgendeines Trabants. Leo hatte Charles gegen zwei Uhr erschossen. Die Nachbarin war eine sehr zuverlässige Zeugin. Ich fragte mich, ob sie wohl jeden Tag hinter dem Fenster gelauert und gewusst hatte, dass meine Mutter und Paul ein Verhältnis hatten, und wer es wohl noch gewusst hatte in dieser Stadt, in der sich Geheimnisse schneller verbreiteten als ein Virus.
Um eins klingelte der Wecker in meine Überlegungen, um Viertel nach eins kroch ich aus der Wärme meines Bettes, duschte und schwang mich in eine schwarze Jeans. Ich schlich hinunter in die Küche und trank einen starken Kaffee, der meine Lebensgeister zu mehr Effizienz antrieb.
Ich schrieb eine Nachricht an Leo, kramte eine Reißzwecke aus der Küchenschublade und verließ das Haus durch die Hintertür zum Hof. Ich pinnte den Zettel im Schuppen an die Innentür, schloss sie leise und machte mich durch die Gärten auf den Weg.
Ein steifer Nordostwind blies mir ins Gesicht, und ich fröstelte, obwohl ich bestens eingepackt in die viel zu große Unterwäsche meines Vaters, einen dicken Kaschmirpullover und meine Daunenjacke durch die Nacht lief. Ich wagte in den Gärten nicht, Adams Taschenlampe zu benutzen, und hatte Mühe, den Weg durch Schnee und Finsternis zu finden.
Ich schaltete die Lampe erst ein, als ich am Bachlauf ankam und über das Brett balancieren musste.
In meiner Jacke klingelte das Handy.
»Konrad hier. Es geht nicht. Nicht heute Nacht. Wir reden morgen.«
Ich wollte etwas erwidern. Dass ich bereits unterwegs war, dass es unbedingt sein musste.
»Meiner Frau geht es nicht gut«, sprach Konrad weiter.
Ich hatte keine Chance, ihn zu überreden, und ließ es sein.
»Morgen?«, fragte ich und schickte ein Gebet zum Himmel.
»Wir müssen abwarten«, sagte er. »Entschuldige. Es tut mir leid.«
Irgendwo hinter mir knackten Zweige. Vielleicht ein Reh, das ich aufgeschreckt hatte. Vielleicht ein Wildschwein. Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nur noch nach Hause.
48
In meinem Leben gab es eine Zeit, in der mir alles selbstverständlich erschien. Dass ich meine Eltern und meinen Bruder liebte und von ihnen geliebt wurde. Dass ich in der Schule beliebt war und dass ich mich in Charles verliebte. Ich dachte keinen Moment darüber nach, wie privilegiert ich war – und wie glücklich. Ich machte mir Gedanken darüber, ob ich in Berlin oder Leipzig studieren sollte, ob ich das weiße T-Shirt oder doch besser das dunkelblaue tragen wollte, ob das Wetter warm genug war, um baden zu gehen, oder ob ich meiner Mutter beim Erdbeerenpflücken helfen musste, was ich hasste wie alle Gartenarbeit.
Ich machte mir Gedanken um Nichtigkeiten, haderte mit mir und anderen
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