Bruderschatten
DDR-Spionagechef Markus Wolf. Sie übersiedelte dann in den Osten, um beim Aufbau des Sozialismus zu helfen, wie es so schön hieß.«
»Das ist nichts Neues. So stand es damals in den Zeitungen.«
»Aber jetzt kommt’s. In London war unter dem Namen Margo Swann nie jemand gemeldet.«
»Und was heißt das?«
»Margo und Charles heißen eigentlich Hazel und Steven Hamilton. Sie bekamen ihre neue Identität, als sie 1979 nach Berlin übersiedelten. Erst zwei Jahre später zogen sie dann nach Solthaven.«
»Wie habt ihr das so schnell herausgefunden?«
»Sagen wir mal, es gibt immer noch die berühmten Rosenholz-CDs, die die CIA Anfang der Neunziger in die Hände bekam und die sie erst 2003 an den Bundesnachrichtendienst weitergab. Und sagen wir mal, Kopien der CDs liegen heute auf einem Rechner. Noch Fragen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Robert hatte nur noch nicht genügend Zeit«, sagte Cornelius dann.
»Und woher kommen die Namen Margo und Charles Swann?«
»Von Proust. ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹.«
»Proust«, sagte ich. »Charles Swann, der Kunstliebhaber und Schürzenjäger, und seine Tante Margo.«
»Du kennst doch die Geschichten über die Romeos, die Markus Wolf ins Ausland schickte, um Sekretärinnen von Politikern, Wirtschaftsbossen und dergleichen anzuwerben.«
Ich prostete Cornelius mit einem Glas Wasser zu. »Und?«
»Hazel Hamilton arbeitete bis 1979 als Sekretärin im britischen Verteidigungsministerium.«
»Du meinst, jemand hat sie für die DDR angeworben?«
Er nickte und trank einen Schluck Wein. »Das ist wahrscheinlich. Als sich Werner Stiller 79 in den Westen absetzte, übergab er dem BND jede Menge Klarnamen von Markus Wolffs Agenten. Die Stasi hatte alle Hände voll zu tun, ihre Leute aus dem Ausland zurückzuholen. Ich nehme an, in dem Zusammenhang kamen auch Margo und Charles hierher. Hat er dir später nie etwas davon erzählt?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Eines Tages saß Charles in der Klasse, und es hieß, seine Mutter sei eine überzeugte Kommunistin und habe England verlassen, um mit uns gemeinsam eine gerechte Gesellschaft aufzubauen. Das leuchtete uns damals doch allen ein. Weshalb sollte ich da später mehr gefragt oder er mehr erzählt haben?«
»Hätte ja sein können«, sagte Cornelius. »Ich lasse dir Roberts Ausdrucke hier. Da hast du alles schriftlich. Aber sieh zu, dass sie niemandem in die Hände fallen, okay? Und eins noch: Die Liste der Namen von den Jungs, mit denen Leo und Konrad im Jugendwerkhof waren, findest du auch darin. Ich kenne keinen der Namen. Aber vielleicht sagen sie dir ja etwas.«
Wir aßen nur ein paar Minuten später. Chris bestand darauf, bei Max zu schlafen. Mein Sohn sah mich fragend an, ich stimmte zu. Die beiden knobelten mit Schere-Stein-Papier aus, wer in Leos Bett und wer auf der Luftmatratze nächtigen musste. Chris gewann das Bett. Ein triumphierendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er boxte Max auf den Oberarm.
»Luftmatratze ist auch cool«, sagte Max und boxte zurück.
Nach dem Essen ging mein Vater ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch. Das Ächzen der Sprungfedern hörte ich bis in die Küche, und kurz darauf erkannte ich die Filmmusik von »Die Spaziergängerin von Sanssouci«, Romy Schneiders letztem Film. Mein Vater und ich liebten Michel Piccoli und Romy Schneider. Zu gern hätte ich mich jetzt wie früher in meinen Sessel verkrochen – die Beine angezogen, eine Tüte Erdnussflips in der Hand – und Romy Schneiders Figur dabei zugesehen, wie ihr Leben aus dem Ruder lief.
Doch Cornelius und ich hatten beschlossen, Koslowskis Ordner durchzugehen, und so räumten wir die Küche wie ein altes Ehepaar gemeinsam auf, routiniert und ohne große Worte. Ich holte einen Stift und einen Schreibblock aus meiner Handtasche und setzte mich zu ihm an den Esstisch.
Recherche war das A und O jeder guten Reportage, und bevor ich einen Gerichtssaal betrat, um über einen Fall zu berichten, las ich jeden Artikel und jede Presseerklärung, die ich aus unserem Archiv anforderte oder selbst im Internet fand. Ich ordnete mein Wissen systematisch, legte mir einen Fragenkatalog zurecht und interviewte später die ermittelnden Beamten.
Ich hatte wie jeder Reporter ein paar streng gehütete Quellen und Informanten. Einige davon sogar am Landgericht, auf Polizeirevieren, unter Staatsanwälten, Richtern, Gutachtern und Polizeibeamten. Manchmal befragte ich Angehörige der Opfer oder Bekannte der Täter,
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