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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Papier
    fühlte sich spröde an, raschelte wie Herbstlaub – daß ich Angst hatte, es könnte unter meinen Fingern zerbröseln. Schließlich
    zog ich den obersten Brief heraus, nahm ihn aus dem Kuvert
    und faltete die erste von vier oder fünf Seiten auf.
    Die Schrift war verschnörkelt und stellenweise verwischt,
    aber was ich las, war Englisch und nicht irgendein
    fremdländisches Kauderwelsch. Der Brief, adressiert an eine
    Engländerin, kam aus St. Petersburg und datierte vom 11.
    Dezember 1798. Er lautete: »Du wirst gewiß mit Freude hören,
    daß sich mein Unternehmen trotz der üblen Vorzeichen bisher
    gut anließ.« Um den Satz zu entziffern, brauchte ich gut eine
    Minute, doch als ich soweit war, las ich ihn noch einmal und
    las weiter.
    Der Absender war ein junger ›Abenteurer auf See‹, Kapitän
    eines englischen Handelsschiffes, das von einem russischen
    Hafen aus zum Nordpol segelte. Der Mann nannte sich Robert
    Walton und war so naiv, die Polkappe für ein ›Land des
    ewigen Lichts‹ zu halten, wo er doch erst die Eismeere
    durchfahren mußte, um dahin zu gelangen. Die Engländerin,
    der er schrieb, war Mrs. Saville, seine Schwester. In seinem
    vierten Brief, der die Ereignisse an Bord eher wie in einem
    Tagebuch festhielt, hieß es, er und seine Männer hätten auf
    dem Eis einen ›Schlitten‹ gesehen, der von Hunden gezogen
    und von einem menschenähnlichen Riesen gelenkt wurde. Man
    habe den ›Reisenden‹ schließlich aus dem Fernrohr verloren.

    »Unverhohlenes Erstaunen bemächtigte sich unser aller«,
    schrieb Walton. Kein Wunder.
    Wie dem auch sei, die Erwähnung des Riesen gab mir zu
    denken; vielleicht hatte Jumbo die Briefe versteckt, weil sie
    von seinen Vorfahren berichteten. Womöglich hatte Walton
    einen Urahnen von Jumbo gesehen, seinen Ur-Urgroßvater
    Clerval.
    Der vierte Brief kündigte die Lebensgeschichte eines
    gebeutelten Europäers an, den Waltons Seeleute von einer
    Eisscholle geborgen hatten. Walton spielte den Sekretär dieses Mannes und schrieb alles nieder, was er erzählt bekam, wobei
    eine komplette Autobiographie des Burschen herauskam – in
    Waltons Handschrift. Das ließ sich so an: »Ich bin ein
    gebürtiger Genfer; meine Familie gehört zu den angesehensten
    dieser Republik.« Diesen Schnickschnack über seine vornehme
    ∗
    Familie konnte ich mir sparen.
    Also faltete ich die Briefe wieder zusammen, steckte sie in
    die Umschläge zurück und verschnürte sie mit dem Band, das
    durchaus ein Ballkleid für Napoleons Gemahlin Josephine
    hätte zieren können. Eben wollte ich das Päckchen wieder
    hinten in das Tagebuch stecken und das Buch wieder in den
    muffigen Lederbeutel und den Lederbeutel wieder in das Kajak
    – als mich das übermächtige Verlangen befiel nachzulesen,
    wer da was protokolliert hatte…

    Hier beginne ich ein neues Leben. Im blakenden Kerzenlicht meiner früheren Existenz war der Tod meine einzige Hoffnung.
    Ich war so tief in den Schlund der Rücksichtslosigkeit und Schlechtigkeit gefallen, ungeachtet der herzlosen Peitsche

    ∗ Der Wortlaut der hervorgehobenen Textteile stammt aus Frankenstein oder Der moderne Prometheus in der erwähnten Übersetzung von Christian Barth.

    meines Schöpfers, daß ich mich nun nicht minder verachtete als die Welt es tat. Ich lechzte nach dem Tod, nach dem
    jenseits unwiderruflicher Auslöschung, und empfahl meine
    Seele der Finsternis dieses Reichs.
    Mit einem Mal, ich weiß nicht, wieviel Zeit verstrichen ist und was der unwillkommene Aufschub soll, atme ich wieder.
    Das beschädigte Herz in meiner Brusthöhle pocht. Meine
    erfrorenen Glieder regen sich. Meine Augen, eben noch in
    vorzeitliche Finsternis getaucht, erblicken die Sterne der Arktis und das saphirblaue Eis einer Welt, der ich gestern oder vor Jahrhunderten noch endgültig entfliehen und entsagen wollte.
    Heute, ähnlich dem legendären Menschensohn der Christen,
    bin ich auferstanden.

    Dieser Eintrag trug kein Datum, sah aber – alt aus. Er klang auch alt. Wenn ich ihn las, meinte ich Jumbo zu hören. Ich
    meinte ihn auch zu sehen, wie er ihn vor langer, langer Zeit in liebevoller Handschrift zu Papier brachte – auf englisch. Er
    hatte seine Worte ziemlich so wie Walton gewählt, fast so, als habe er sich Waltons Worte zum Vorbild genommen.
    Ich trug Jumbos Tagebuch zu dem kleinen Schulpult oben an
    meinem neuen Bett, schlug meine Kladde auf und fing an,
    seine Geschichte Wort für Wort abzuschreiben. Ich hielt das
    für wichtig –

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