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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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konnte nicht nur in Windeseile Holzstaus auflösen, er konnte auch die Landschaft verändern, indem er Seen und Flüsse schuf; ja, er soll sogar den Grand Canyon gemacht haben…

    trat Schuhe samt Overall beiseite und saß da in allzu knappen
    Baumwollsöckchen.
    »Mit großen Mengen Gin, einem Küchenmesser und einer
    Metallsäge gelang es mir, jeweils zwölf Zoll lange Abschnitte
    aus meinen Unterbeinknochen zu entfernen, die sich mein
    Schöpfer aus einem Leichen- oder Schlachthaus
    zusammengesucht hatte. Unter seinen Habseligkeiten auf der
    Caliban hatte sich ein kleines Notizbuch befunden, in dem viele chirurgische Verfahren beschrieben standen, die er zu
    meiner Erschaffung eingesetzt hatte – nicht zu meiner
    Erweckung, versteht sich. Dieses Miniaturprotokoll habe ich
    wieder und wieder gelesen – auf meiner Reise von der Barents-
    See zur Tschuktschen-Halbinsel und dann in größeren
    Abständen auch während meiner Zeit mit den Inuit – bis ich
    durch und durch damit vertraut war und alles intuitiv verstand.
    Gerüstet mit diesen Kenntnissen, fiel es mir nicht weiter
    schwer, die Knochen an der richtigen Stelle zu durchtrennen
    und neu zusammenzusetzen. Zur Sommersonnenwende kürzte
    ich mit Hangen und Bangen mein linkes Bein. Zwei Wochen
    nach dieser Autoexzision führte ich die gleiche Operation an
    diesem Bein durch.« Henry berührte den hellen Wulst am
    rechten Bein. »So wie mein Schöpfer mich konzipiert hat,
    blute ich gerade soviel, daß sich die Wunden reinigen, aber
    nicht so üppig, daß ich zuviel von meiner Lebenskraft verliere.
    Obwohl ich anfangs meine Höhle nicht verlassen und nicht
    einmal inwendig von hier nach da humpeln konnte, dauerte
    meine Genesung nicht länger, als ich aufgrund meiner
    Kenntnisse erwartet hatte: drei Monate nämlich oder bis zur
    nächsten Tagundnachtgleiche.
    Das war eine idyllische Zeit, Daniel. In der Frühphase meiner
    Genesung stand mir ein Vorrat an Nüssen, Knollen und
    getrockneten Früchten zur Verfügung, den ich rechtzeitig
    angelegt hatte. In dem Bewußtsein, meine Körpergröße

    erfolgreich gekürzt zu haben, lag ich auf dem Rücken in
    meiner Höhle unweit einer verwaisten Mühle und schrieb in
    Gedanken Gedichte oder versuchte mich an geometrischen und
    mathematischen Rätseln. Ich widerstand der Versuchung zu
    singen. Da ich die Höhle vorsorglich mit Strickleitern und
    hölzernen Laufstangen ausgerüstet hatte, konnte ich mich
    Hand über Hand von einer Stelle zur anderen bewegen, ohne
    meine unteren Extremitäten mehr als therapeutisch zu belasten.
    Dasselbe System trug so auch zur Rehabilitation bei, und es
    sollte nicht mehr lange dauern und ich machte wieder die
    ersten Gehversuche.
    Dank der Eigenoperation war ich nun an Größe weniger
    furchterregend und zu Fuß sogar mitleiderregend. Doch das
    eine war endgültig und das andere eine Frage der Zeit.
    Während der letzten Phase meiner Genesung stakste ich bereits
    im Freien umher. Ich sammelte Hickory-Nüsse, sog das Aroma
    zerriebener Hickory-Blätter und sah Säger, Kanevasenten mit
    karmesinroten Köpfen und zierliche Brautenten am
    Septemberhimmel. Das Leben abseits der Menschen schien
    mir ein unsägliches Geschenk zu sein. Vor mir allerdings lagen die trostlosen Herbststürme und die unwirtliche Winterkälte,
    eine Zeit, der ich freudlos entgegensah.
    In der Tat trug ich mich mit dem Gedanken, mich in eine
    menschliche Gemeinschaft einzuschleichen, die soviel
    Toleranz versprach, wie es Keriaks Sippe getan hatte. Ich
    stutzte mir das Haar. Aus natürlichen Ingredienzien mischte
    ich vielerlei Salben, Pasten und Tinkturen, um die
    Verwerfungen und gräßlichen Farbunterschiede der Haut zu
    kurieren. Ich überprüfte meine Fortschritte in der Scherbe
    eines Rasierspiegels, die ich aufgelesen hatte, und sah, daß
    meine Haut dank dieser kosmetischen Mittel ein gleichmäßiges
    Graurosa angenommen hatte. Ich konnte, wie ich fand,
    durchaus als beinkranker, häßlicher Kaukasier gelten. Keine

    wählerische amerikanische Frau würde mich zum Mann haben
    wollen, doch solange ich mit begabten Männern und Frauen
    guten Willens platonisch verkehren durfte, wollte ich diesen
    Mangel an Intimität mit einer verständnisvollen Frau ertragen.
    Und das habe ich bis auf den Tag getan, Daniel. Ich habe
    mich in all der Zeit an eine kurzweilige, arbeitsreiche
    Enthaltsamkeit gewöhnt. Es war nicht so schwer, wie ich
    befürchtet hatte. Die Jahre lassen dein Verlangen versickern –
    selbst das

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