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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Geruch verströmten.
    »Ich möchte ihn bringen«, sagte er.
    »Er ist schwer.«
    »So schwer nicht. Bin stark genug.«
    »Okay, wenn es dir nichts ausmacht.«
    Es machte Euclid nichts aus, im Gegenteil. Was für mich eine
    elende Plackerei war, war für ihn ein Privileg, ein Abenteuer.
    Er zog seine schmutzigen Turnschuhe an, hievte den Koffer
    vom Bett und ging vor zur Stiege.
    Er wankte die Stufen hinunter, zur Blechtür hinaus und durch
    die Hortensien- und Azaleensträucher am Wagenschuppen,

    beide Hände am Plastikgriff und so breitbeinig wie ein Mann
    beim Holzhacken. Er würde vierzig Minuten wenn nicht länger
    bis zum Alligator-Park brauchen, aber er würde es schaffen
    und mir und Henry den Ausflug ersparen und Darius
    Gelegenheit bieten, sich persönlich zu verabschieden.
    Wieder in McKissic House erzählte ich Henry von dem
    glücklichen Zufall. Er legte The Nature and Destiny of Man von Reinhold Niebuhr* beiseite und besah mich, als hätte ich
    ein Baby mit dem Schlabberlätzchen erdrosselt. »Er wird Mr.
    Satterfield betteln, ihn mitzunehmen, Daniel, und Mr.
    Satterfield muß ihm den Wunsch abschlagen.«
    »N-n-nicht unbedingt.«
    »Ich wette einen Monatslohn.« Henry kam mit einem »Uff«
    und einem Seufzer auf die Füße. »Und wenn er zurückkommt,
    wird er wütend oder untröstlich sein.«
    »Jemand mußte doch gehen.«
    Henry schlurfte ans offene Fenster, zwängte sich hindurch
    und setzte sich auf die oberste Sprosse der Feuertreppe und
    starrte, eine Schulter an der Hauswand, über den Victory-
    Garten hinweg, der sich zwischen McKissic House und dem
    spanisch anmutenden Bungalow von Mister JayMac und Miss
    Giselle erstreckte. So wie er da draußen saß und buch- und
    wortlos über die silbrigen Malvenstengel, die elefantenohrigen Kürbispflanzen, die Stangenbohnen und Tomatenstöcke
    hinwegblickte, drückte seine Schulter eine Welle aus
    Vorwürfen durch die vergammelten Schindelbretter – aber sie
    gingen mir nicht unter die Haut.
    Ich legte mich schlafen.
    Zwei oder drei Stunden später erwachte ich unter den
    typischen Setzgeräuschen eines Hauses und den
    scherbenkühlen Streicheleinheiten einer
    Mittsommernachtsbrise. Etwas wie Angst oder Instinkt ließ
    mich den Kopf heben. Trotz Dunkelheit sah ich, daß Henry

    nicht im Zimmer war. Das Fenster stand immer noch offen. Ich
    stützte mich auf, konnte aber nur zottige schwarze Baumwipfel
    und ein milchiges Gesprenkel von Sternen sehen. Keinen
    Henry.
    »Henry?« sagte ich. »Henry?«
    Vielleicht hatte er sich ja längst wieder ins Zimmer gezwängt
    und war eben mal den Flur hinunter zum Etagenklo. Nicht sehr
    wahrscheinlich allerdings; das Buch zeltete noch da auf dem
    Bett, wo er es abgelegt hatte. Ich krabbelte ans Fußende
    meines Bettes und spähte nach draußen.
    Nach einer Weile stieg ich in meiner Unterwäsche aus dem
    Fenster und stand da und sondierte den Abfall unten am Haus
    (leere Farbdosen, ein schimmerndes altes Waschbecken,
    zerknüllte Zigarettenpäckchen, Papierhüllen von
    Schokoriegeln, ein Paar rostige Fahrradpedale). Dazwischen
    und an den Grundmauern sprossen Pflanzen (Sonnenblumen,
    Purpurwinde, Kermesbeeren, Mimosenwedel). Keine Spur von
    Henry.
    Einen Moment lang war ich versucht, auf das Geländer der
    Feuertreppe zu klettern und wie ein mexikanischer
    Klippenspringer in die Nacht zu tauchen. Ich widerstand der
    Versuchung – was mir nicht weiter schwerfiel – und kletterte ins Zimmer zurück, um mir eine Zigarette anzustecken.
    Henry kam und kam nicht zurück. Das nächste Mal wurde ich
    wach, als der erste Schimmer des Tages auf mein Kopfkissen
    kroch. Meine Lider klappten auf, und ich kippte mich ans
    Fenster.
    Drei oder vier Sprossen unter mir hockte Henry, den Kopf
    gesenkt und die Schultern über die Knie gebeugt. Ich
    trommelte aufs Fensterbrett. Er hob den Kopf und peilte die
    Geräuschquelle an. Aus irgendeinem Grund hob er an, mit
    bebenden Lippen und Kehlsegeln wie eine Turteltaube zu
    gurren.

    »Henry, wo warst du die ganze Na-Nacht?«
    »Hier. Ich habe die frische Luft genossen.«
    Eine Lüge. Eine Lüge! Die mir damals verschlagener und verletzender vorkam als die ganze verquaste Geheimnistuerei
    mit dem Kajak, dem Tagebuch und den Robert-Walton-
    Briefen. Warum belog er mich?
    Stimmt ni-nicht, wollte ich sagen und stammelte sogar in
    Gedanken, doch eine lange Rattenschnauze spitzte aus Henrys
    Schoß, und ich brachte kein Wort heraus.
    Die Schnauze gehörte einem Opossum. Henry hielt

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