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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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ein
    ausgewachsenes Opossum auf dem Schoß. Ich kletterte nach
    draußen, um es besser sehen zu können, und Henry lehnte sich
    mir zu Gefallen zurück.
    Das Opossum fand keinen Gefallen an mir. Es zeigte mir die
    scharfen Zähnchen und fauchte so lautlos wie ein Katze. Die
    Öhrchen sahen aus wie grauschwarze Blätter, an denen eine
    hungrige Raupe gefressen hatte, und der Schwanz wie ein
    steifes weißes Gummikabel, das jemand mit einem
    Radiergummi verschmiert hatte. Von der Schnauze und den
    schwarzen Perlaugen standen weiße und schwarze Barthaare
    ab. In einem Schönheitswettbewerb hätte es nur gewinnen
    können, wenn in der Jury etliche Opossums gesessen hätten,
    doch ins Feuer gelegt hätte ich meine Hand nicht dafür.
    »Opossums sind stroh-d-dumm«, sagte ich. »Ein Gehirn so
    groß wie’n Kartoffelkäfer.« Ich stieg noch ein zwei Sprossen
    tiefer. Das Opossum zeigte mir wieder die Zähne.
    »Vielleicht doch ein bißchen größer«, meinte Henry.
    Ich fuchtelte mit der Hand. Das Opossum fuhr zurück, das
    rosa Nasenbällchen vor Wut oder Angst gerümpft. Henry
    streichelte ihm den Rücken und gurrte wieder wie eine
    Turteltaube. Mich ärgerte, wie er das Tier hätschelte. Ich
    langte vor und schnippte nach dem Näschen.
    »Daniel!«

    Das Opossum sprang entsetzt aus Henrys Schoß und floh die
    Sprossen hinunter; doch die kurzen Beine im Verein mit den
    Abständen zwischen den Sprossen machten es viel zu schnell.
    Einen Augenblick lang befürchtete ich, es könnte ins Dunkel
    hinausschießen und wie ein Pelzbömbchen in das
    Durcheinander aus Abfällen und Pflanzen stürzen – aber nach
    drei oder vier halsbrecherischen Sätzen verkeilte es sich mit
    Kopf und Vorderbeinen zwischen zwei Geländerdocken und
    wurstelte sich mit den rosa Händchen über die gähnende Lücke
    bis zur nächsten Sprosse. Von da an hoppelte es die ganze
    restliche Feuertreppe hinunter und verschwand in unserem
    Victory-Garten.
    »Du hättest sie töten können«, sagte Henry.
    »Du hast mich belogen. Du hast hier n-nicht die ganze Nacht
    gesessen. Das kann nicht sein.«
    »Ich habe einen Spaziergang um den Hellbender-Weiher
    gemacht. Ich bin Pearl begegnet. Ich habe sie mitgebracht, um
    mit ihr den Ausblick zu genießen.«
    »P-Pearl?«
    »Das arme Beuteltier, dessen Leben du eben aufs Spiel
    gesetzt hast. Sie hatte Babies dabei – Junge. Du hast sie alle in Gefahr gebracht.«
    »Ich habe keine B-B-Babys gesehen, Henry.«
    »Sie hatte trotzdem fünf oder sechs. Sie trägt sie im
    Brutbeutel. Wer weiß, vielleicht sind sie bei dem
    Bauchklatscher verletzt oder getötet worden.« Er stieg zum
    Fenster hinauf und duckte sich hindurch wie King Kong durch
    den Schlitz in der Waschpulverschachtel.
    Henrys Verdruß hielt mich ab, seiner Lüge weiter auf den
    Grund zu gehen. Er hatte bestimmt nicht die ganze Nacht
    damit zugebracht, rund um den Weiher zu spazieren und ein
    Opossum mit auf die Feuertreppe zu nehmen. Aber wenn doch,
    dann hatte ich ihn der Lüge bezichtigt und mich wie ein

    kleinkarierter Rohling benommen, der nach einem Sündenbock
    suchte.
    Am Nachmittag – es stand uns das dritte und letzte Spiel
    gegen Quitman bevor – kam Mister JayMac in die Kantine. Er
    hatte Euclid bei sich, genaugenommen hielt er das
    verängstigte, verwahrloste und hilflose Kerlchen im
    Schwitzkasten. Mit den Knöcheln der freien Hand rubbelte er –
    sanft – in Euclids Kraushaar. Man hatte allerdings das Gefühl, daß eine plötzliche Bewegung des Jungen diese sanfte
    Berührung in ein schmerzhaftes Radieren verwandeln würde.
    »Darius ist schon bald drei Tage verschollen«, sagte Mister
    JayMac. »Hat ihn irgend jemand zu Gesicht bekommen seit
    Dienstag?«
    Ich warf einen Blick ans Kopfende des Tisches, wo Henry
    hinter seiner Dinnerplatte saß, auf der sich ein Gebirge aus
    Kürbis, Kohl, geschmorten Auberginescheiben und Popcorn-
    Okra türmte. Er bemerkte meinen Blick und schüttelte kaum
    merklich den Kopf.
    »Wie steht’s denn mit Euclid?« fragte Sosebee. »Weiß der
    Schlingel was?«
    »Behauptet, nein«, sagte Mister JayMac. »Vielleicht kohlt er.
    Aber im Moment frage ich nicht Euclid, sondern euch hier.«
    »Darius meldet sich weder ab noch an bei uns«, sagte
    Trapdoor Evans. »Warum sollten wir mehr wissen als der
    Junge?«
    »Also gut«, sagte Mister JayMac. »Von jetzt an betrachte ich
    Darius Satterfield als AWOL.«
    »Als was?« sagte Fadeaway Ankers.
    ∗
    »Absent without leave«, sagte Muscles. »AWOL.«

    ∗

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