Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Internet-Aktivisten gibt, die »Post Privacy« propagieren – also die bewusste und komplette Entblößung. Das wirkt skurril, wenn dann über das Frühstück Protokoll geführt wird. Das ist aber keine Massenbewegung.
GENSCHER
Manchmal empfinde ich es im Alltag beklemmend, wenn im Bahnabteil der Sitznachbar laut über Geschäftsgeheimnisse und Intimleben am Handy berichtet. Das hätte es früher so nicht gegeben. Allein aus Höflichkeit. Dennoch, ich teile Ihre Meinung, Privatheit ist ein Recht, aber keine Pflicht.
LINDNER
Da ist die Gesellschaft plural. Ich will die Sammlung von Daten auch nicht ausschließlich in »Moll« intonieren, das würde den Chancen nicht gerecht. Gerade die anonyme, nicht personenbezogene Auswertung von Nutzerdaten auf großen Plattformen kann recht komfortabel sein. Beispielsweise ist es heute möglich, verblüffend genau zum eigenen Musikgeschmack passende Vorschläge einzuholen, welche Interpreten man noch nicht kennt, die aber gefallen könnten. Das ist angenehm, solange man sich dessen bewusst ist. Es muss ja auch Raum für Experiment, Zufallsfunde und Neues sein, was außerhalb des bisherigen eigenen Horizonts liegt.
Die Piraten
GENSCHER
Wir müssen jetzt noch einmal auf die Piraten-Partei zu sprechen kommen. In den Augen vieler Beobachter hat sich diese Formation den neuen Themen ja mit besonderer Glaubwürdigkeit und Kompetenz angenommen.
LINDNER
Die sollten wir nicht so hoch hängen. Ein Teil des Zuspruchs erklärt sich sicher daraus, dass das Feld der sogenannten Netzpolitik bei den etablierten Parteien unterbelichtet war – ja. Das betrifft Fragen der inneren, technischen Organisation des Internets, der Folgen der Anwendung dieser Technologie im täglichen Leben und die Nutzung des Netzes für die Demokratie selbst. Da ist die Debatte unterdessen weiter. Einen Anteil daran hat eine Enquete-Kommission, die der Deutsche Bundestag in dieser Legislaturperiode eingerichtet hat. Die Piraten selbst haben über das Aufwerfen von relevanten Fragen hinaus wenig Impulse gegeben. Das hat das Publikum unterdessen bemerkt. Der größere Teil des zwischenzeitlichen Erfolgs der Piraten-Partei beruhte nach meiner Wahrnehmung deshalb hingegen auf einer Ablehnung der ritualisierten, etablierten Politik. Ein Stück Parteienkritik, Parteienprotest …
GENSCHER
Diese Rolle hatten sie von den Grünen übernommen. Die wurde weitergereicht, weil die Grünen inzwischen zum Establishment gehören. So weit sind die Piraten nicht gekommen. Es scheint, dass ihre Entwicklung eher nach unten zeigt.
LINDNER
Auch ich sehe die Chancen auf eine dauerhafte Etablierung der Piraten skeptisch. Parteien formieren sich ja anhand von Konfliktlinien der Gesellschaft. Kapital und Arbeit, Stadt und Land, kirchlich und säkular orientierte Politik – das waren historische Trennungen. Dann kam die Auseinandersetzung zwischen Ökologie und Ökonomie dazu, an der sich die Grünen aufbauen konnten. Online und Offline – das könnte zwar eine neue Konfliktlinie sein, aber weder arbeiten sich die Piraten hier konzeptionell ab, noch können sie eine Exklusivität für sich reklamieren. Auf wesentliche Grundsatzfragen können sie keine programmatische Antwort geben. Auf dem letzten Parteitag konnten sie sich noch nicht einmal zu einem Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft durchringen.
GENSCHER
Woher kommt eigentlich der Name – Piraten?
LINDNER
Das geht zurück auf Piraterie im Internet. Die skandinavischen Gründer wollten kosten- und straffrei Software und Inhalte aus dem Internet nutzen. Aus einer ganz selbstbezogenen Motivation sollte das geistige Eigentum geschliffen werden – zum Schaden derjenigen, die von den Ergebnissen ihrer geistigen Schaffenskraft leben. Für mich ist klar, dass Leistungen geschützt bleiben müssen. Eine technische Überwachung des Internetverkehrs, um Urheberrechtsverletzungen zu erkennen, wäre aber nicht akzeptabel. Insofern setze ich eher auf die Anbieter von Inhalten, die neue Geschäftsmodelle entwickeln. Da hat der Gesetzgeber eine vermittelnde Rolle zwischen Nutzern und Anbietern. Dass die Piraten sich eher auf eine Seite schlagen, zeigt, dass sie eben keine liberale Partei sind, wenngleich sich manche ihrer Unterstützer vielleicht so verstehen.
Darf ich aber noch einmal auf Ihr Wort von der Bändigung wirtschaftlicher Macht zurückkommen? Da haben Sie den Gedanken der Ordnungspolitik eingeführt, was ich für sehr wichtig halte. Vor den neuen Marktplätzen und
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