Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Staatsmedizin in Form der geforderten Bürgerversicherung ab, in den USA ist eine Grundversorgung für jeden aber dringend nötig. In Deutschland haben wir sicher nicht das größte Problem damit, dass unsere Steuersätze zu niedrig wären, aber in den USA ist es doch ein Gebot der Gerechtigkeit, zu einer vernünftigen Lastenverteilung zu kommen. Wenn der unterlegene Präsidentschaftskandidat Romney als Einkommensmillionär nur 13 Prozent Steuern zu zahlen hat, ist das skandalös. Bei uns haben wir einen gut entwickelten öffentlichen Sektor, der hier und da auch ein Stück schlanker werden darf, aber in den USA verkommt die Infrastruktur – man hat in manchen Ecken New Yorks den Eindruck, man wäre in den dreißiger Jahren unterwegs. Dazu darf es bei uns nicht kommen, und damit haben die Amerikaner in den nächsten Jahrzehnten zu tun. Insofern war die Präsidentschaftswahl auch eine Richtungsentscheidung, die – wenn man so will – zu einer »europäischeren« Betrachtung bestimmter Probleme in den USA führt. Die Polarisierungsstrategie der Republikaner ist jedenfalls nicht aufgegangen.
GENSCHER
Zu den Gemeinplätzen der internationalen Diskussion gehört die These, dass Europa in seiner gegenwärtigen finanziellen und ökonomischen Verfassung ein Problem für die Weltgemeinschaft sei. Nun wird niemand bestreiten wollen, dass die Europäische Union ihre erste strukturelle Krise zu bestehen hat. Aber nur die Europäische Union? Ein Blick nach China zeigt, wie groß die inneren Probleme des Landes sind. Die überraschenden Geräusche vor und bei dem letzten Führungswechsel machen deutlich, dass China mit internen Problemen zu kämpfen hat. Solche Prozesse laufen in China anders ab als bei uns. Aber sie gibt es, und meine Zuversicht, dass China diese Probleme meistern wird, ist genauso groß wie meine Zuversicht, dass der Europäischen Union das gelingen wird.
Wer wollte bestreiten, dass auch Russland vor großen internen Herausforderungen steht? Heißt das nun, dass das in den USA gänzlich anders sei? Keineswegs! In der weltweit erkennbaren Befriedigung über die Wiederwahl von Präsident Obama ging unter, dass diese Wiederwahl ganz wesentlich neben dem Charisma des Präsidenten der Tatsache zu verdanken ist, dass sich in den USA eine dramatische Veränderung der Wählerschaft vollzieht. Wenn die Republikaner daraus keine Konsequenzen ziehen, werden sie für lange Zeit das Feld den Demokraten überlassen müssen. Im Grunde hatten wir es schon bei dieser Wahl mit einer tiefen Spaltung des republikanischen Wählerreservoirs zu tun und mit eigentlich zwei republikanischen Parteien – zum einen die klassischen Republikaner, zum anderen die »Tea Party«-Szene. Anlass zur Hoffnung gibt, dass Letztere einen Gewichtsverlust hinnehmen musste. Das andere Neue an der Entwicklung in den USA bei der letzten Präsidentenwahl ist die strukturelle Veränderung der Wählerschaft. Die Minderheiten der Vergangenheit, etwa Afroamerikaner und Latinos, haben sich zu den entscheidenden Gewichten für die Mehrheitsbildung von heute und morgen entwickelt.
LINDNER
Erwarten Sie eine grundlegende Änderung der amerikanischen Außenpolitik nach der Bestätigung von Präsident Obama im Amt?
GENSCHER
Ich erwarte eher, dass er die außenpolitische Grundorientierung, wie er sie nach seinem ersten Amtsantritt dargelegt hat, jetzt entschlossener durchsetzen kann. Außenpolitisch hatte Präsident Obama zwei herausragende Reden gehalten – die eine in Prag an die Adresse der Europäer, wobei ich besonders gut fand, dass er sie in Prag hielt, und die andere in Kairo an die islamische Welt. Wenn er daran wieder anknüpft – was ich hoffe, denn er ist in Fragen der Außenpolitik nach seiner Wiederwahl nun freier –, dann könnte er damit auch der veränderten gesellschaftlichen Stimmung in den USA Rechnung tragen. Und mit einem solchen Amerika könnte Europa neue Gemeinsamkeiten finden. Ganz grundsätzlich: Warum sind wir – Europäer und Amerikaner – so ideale Partner auch unter dem Gesichtspunkt der entstehenden Weltordnung?
In der neuen Weltordnung gibt es zwei Arten von Global Players. Die einen bilden die großen Staaten, die »Weltmächte« USA , China, Russland, Indien und Brasilien. Und zur zweiten Gruppe rechne ich regionale Zusammenschlüsse von Staaten mittlerer und kleinerer Größe. Die Europäische Union ist hier der Idealtypus – schwächer ausgeprägte Zusammenschlüsse sind ASEAN , die Afrikanische Union,
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